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Lustlose Formübung

Von Peter Hilpold

Recht

Der EU-Rechtsstaatlichkeitsbericht 2020 - eine (vorerst) vertane Chance.


In dem Ringen um europäische Werte steht die Rechtsstaatlichkeitsdimension ganz im Vordergrund. Selbst der mehrjährige EU-Haushalt und die Wiederaufbauhilfen werden an die "Rechtsstaatlichkeitskonditionalität" gebunden. Diese Bedingung birgt enorme Sprengkraft: Sie kann tatsächlich wegweisend für die Entwicklung einer auf substanziellen Werten beruhenden Union sein oder aber dem europäischen Integrationsprozess ein Ende setzen, wenn deutlich werden sollte, dass insbesondere die "illiberalen Demokratien" diese Werte nicht mehr mittragen können oder wollen.

Nun wirft schon die Definition der "Rechtsstaatlichkeit" Probleme auf, aber es zeichnet sich dennoch ein Grundkonsens in Bezug auf einen Kernbereich dieses Konzepts ab: Alle staatliche Macht muss auf Recht beruhen, das in einem demokratischen, gewaltenteiligen Prozess geschaffen wird. Zentrale Bedeutung kommt dem Vorliegen einer unabhängigen, unparteilichen Gerichtsbarkeit sowie dem wirksamen Grundrechtsschutz zu. Daraus ergeben sich zahlreiche weitere Verästelungen bis hin zur Sicherstellung zusätzlicher Kontrollmechanismen, beispielsweise einer unabhängigen, freien Presse.

Übernimmt eine internationale Institution wie die EU die Rechtsstaatlichkeitskontrolle, so muss sie, will sie darin ihre Legitimität und Autorität wahren, diese Aufgabe umfassend, in Bezug auf alle Mitgliedstaaten - und nicht nur in Bezug auf die deklarierten "Renegaten der Rechtsstaatlichkeit" (Ulrich Hufeld) - wahrnehmen.

Das diesbezügliche Bemühen der EU hat vorerst zu ambivalenten Ergebnissen geführt. Dabei hat die Europäische Kommission am 30. September 2020 erstmals einen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union mit Länderberichten vorgelegt.

Die kritischen Äußerungen zu verschiedenen Ländersituationen insbesondere in Mittel- und Osteuropa gingen durch die Medien. Ein Blick in den Bericht zur Situation in Österreich zeigt aber, dass wir hier von einer allgemeinen, substanziierten Rechtsstaatlichkeitskontrolle über die gesamte Union hinweg noch weit entfernt sind.

Breite Aufmerksamkeitfür die Pressefreiheit

Beginnen wir mit dem, was in dem Österreich-Bericht gut ist: Auffallend ist die breite Aufmerksamkeit, die die Europäische Kommission der Pressefreiheit in diesem Land widmet. Dabei hebt sie kritisch die hohen Beträge öffentlicher Werbeschaltungen hervor, die - auch angesichts der Konzentration auf Blätter mit hoher Auflage - zu politischer Einflussnahme führen können. Der unzureichende Schutz von Journalisten vor verbalen Übergriffen und der fehlende Schutz vor politischer Einflussnahme bei der Bestellung und Absetzung von Chefredakteuren in Nachrichtenmedien wird ebenfalls kritisiert.

Ungenügend sind hingegen die Ausführungen im Bereich der Unabhängigkeit der Justiz. Zwar hebt der Bericht die Notwendigkeit hervor, auf eine größere Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften hinzuarbeiten, und er verweist auch auf das Problem des ministeriellen Weisungsrechts. Die eigentliche damit verbundene Problematik scheint die Europäische Kommission aber zu verkennen. So erwähnt sie nicht die schon lange von prominenten Vertretern von Justiz, Politik und Wissenschaft vorgetragene Forderung nach Schaffung einer autonomen Selbstverwaltungskörperschaft für die Justiz. Mit einer strikten Durchsetzung der Gewaltenteilung und Sicherstellung der Unabhängigkeit der richterlichen Karrieren vom Justizministerium würde auch die Gefahr der "informellen Weisungen/Einflussnahme" jenseits der formellen Wahrnehmungsschwelle entfallen. Ausländische Vorbilder zeigen die Vorteile dieses Modells.

Weisungsrecht: Bedenken werden relativiert

Vollends problematisch wird der Bericht dann, wenn dieser die Bedenken gegenüber dem Weisungsrecht wiederum relativiert, indem er auf Dokumente anderer internationaler Organisationen verweist, die wiederum auf unspezifizierte Garantien für "Transparenz und Billigkeit" Bezug nehmen. Eine "copy-and-paste"-Übung aus Dokumenten anderer diplomatischer Institutionen ohne echte Vertiefung der Materie wird wohl kaum einer auch nur annähernd ausreichenden Rechtsstaatlichkeitsprüfung gerecht.

Ähnliches ist in Bezug auf die Ausführungen zu Volksanwaltschaft und anderen Ombudsmann-Einrichtungen zu sagen. Was nützt es in einem Rechtsstaatlichkeitsbericht, diese kurz zu erwähnen und diesen - ohne nähere Prüfung ihrer tatsächlichen Arbeitseffizienz - pauschal zu attestieren, dass diese "beitragen, Grundrechte in verschiedenen Gebieten zu garantieren"?

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier eine lustlose Formübung über die Bühne gegangen ist, wobei die Gedanken anderswo lagen.

Schon klar: Eine Rechtsstaatlichkeitsprüfung über alle EU-Mitgliedstaaten hinweg, die nicht nur den hohen formellen Ansprüchen der Union, sondern den (mindestens ebenso hohen) nach außen getragenen Ambitionen der Mitgliedstaaten gerecht werden soll, ist ein Unterfangen von enormem Aufwand. Dieser ist aber unerlässlich, wenn die Stimme der Union gegenüber den "Renegaten" Gewicht haben soll.

Für die nächste Überprüfungsrunde kann der Europäischen Kommission empfohlen werden, eine primär epistemische Diskussion zu vermeiden, die von ihr selbst immer wieder hochgehaltene umfassende Einbindung der Zivilgesellschaft ernst zu nehmen, ein breites Diskussionsforum zu eröffnen, nationale Referenten zu benennen, an die sich jeder Interessierte (auch elektronisch) wenden kann, und auch auf nationaler Ebene Initiativen zu fördern, die die Rechtsstaatlichkeitsdiskussion gezielt voranbringen. Auf mittlere Frist könnte damit tatsächlich ein entscheidender Fortschritt in der Rechtsstaatlichkeitsdiskussion erzielt werden.

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