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Die Wahl mit dem Virus

Von Paul Grohma, Michael Lidauer und Armin Rabitsch

Recht

Gutes Zeugnis für die Wien-Wahl: Es wurde nicht über die Corona-Gesetze hinaus reglementiert.


Als im historischen Wahljahr 1919 erstmals das allgemeine Wahlrecht für Frauen ausgeübt wurde, wütete die Spanische Grippe in Europa. Wie damals auf die Ansteckungsgefahr reagiert wurde, ist weitgehend unaufgearbeitet und bedürfte einer historischen Analyse. Im Jahr 2020, als das Europäische Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten kurz vor dem Wahltag die Region Wien als höchstes Risikogebiet auswies, widmet sich die Initiative wahlbeobachtung.org den Auswirkungen von Covid-19 auf die Wahlpraxis und analysiert wahlspezifische Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung. Wahlbeobachtung.org ist eine unabhängige zivilgesellschaftliche Initiative und setzt sich durch Forschung, Empfehlungen und Advocacy auf der Basis internationaler Verpflichtungen für die Stärkung demokratischer Praktiken und die Verbesserung von Wahlprozessen ein.

Die Studie zu den Wiener Gemeinderats- und Bezirksvertretungswahlen unter Bedingungen von Covid-19 beruht auf vorangegangenen Recherchen zu Auswirkungen der Pandemie auf demokratische Prozesse in Europa. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses steht die demokratiepolitische Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen, unter denen Wahlen abgehalten werden. Befragt wurden Wahl- und Gesundheitsbehörden, politische Parteien, die Post, der Verein Bizeps sowie eine kleine Gruppe von Wahlberechtigten.

Das Wahlgesetz siehtkeine Wahlbeobachtung vor

Das Wahlgesetz sieht nach wie vor keine Möglichkeit einer zivilgesellschaftlichen Wahlbeobachtung vor, die ein größeres und inhaltlich umfassenderes Sample ermöglichen würde. Dieses Anliegen einer stärkeren Bürgerbeteiligung bei Wahlen, das von der OSZE und durch internationale Verpflichtungen der Republik gestützt wird, bedürfte einer umfassenden Wahlrechtsreform, für die sich wahlbeobachtung.org seit 2013 engagiert.

Was waren die Auswirkungen von Covid-19 auf diese Wahlen? Für den Wahlkampf war die Pandemie nicht nur inhaltlich prägend, auch die Durchführung von Veranstaltungen war betroffen. Wahlwerbung verschob sich weitgehend ins Internet und in die Medien, was von einigen Listen als Nachteil empfunden wurde. Manche Parteien verzichteten freiwillig auf öffentliche Kundgebungen, andere änderten ihre Taktik nicht über die allgemeinen Covid-19-Gesetze hinaus. Auffällig war eine Tendenz von Parteien des rechten Spektrums, Covid-19-Maßnahmen in Frage zu stellen und Wahlkampfeinschränkungen nur bedingt umzusetzen.

Verordnung trat mit 14. Oktober wieder außer Kraft

Hinsichtlich der Wahldurchführung wurde die rechtliche Grundlage für eine längere Auszählungsdauer der Wahlkarten und für die "Maßnahmen zur Bekämpfung der Verbreitung von Covid-19 bei der Durchführung der Wahl" in Form einer Verordnung geschaffen. Letztere bezieht sich auf das Covid-19 Maßnahmengesetz und enthält spezifische Regelungen für die Wahlabwicklung. Im Vordergrund steht die Verhinderung von Corona-Clustern am Wahltag sowie der Schutz der Wahlberechtigten.

Besonderer Schutz kommt den wahldurchführenden Organen - insbesondere den OrdnerInnen - zu, die mit Maske und zusätzlichem Gesichtsvisier auszustatten waren. Zudem wurden 12.000 Gurgeltests ausgegeben, die alle Wahlorgane verpflichtend vor und nach der Wahl durchzuführen hatten. Die Verordnung trat am 14. Oktober wieder außer Kraft und stellt somit keine dauerhafte Veränderung der gesetzlichen Grundlagen für Wahlen in Wien dar.

In den Wahllokalen kam eine detaillierte Dienstanweisung zur Anwendung, die Vorgaben zu Hygiene, regelmäßigem Lüften sowie Masken- und Abstandsregeln festlegte. Ein "Covid-Sackerl" mit Schutzvorrichtungen, Desinfektionsmitteln und Covid-19-Plakaten wurde an alle 1.494 Wahllokale verteilt. Für die 1.362.789 Wahlberechtigten waren Paravents aus Plexiglas bei der kontaktlosen Identifikationsüberprüfung sowie das Fehlen von Kugelschreibern in den Kabinen die wohl auffälligsten Veränderungen. Aus Sicht von Menschen mit Behinderungen konnte die Verlegung von Wahllokalen Änderungen des barrierefreien Zugangs bedingen.

Der Zugang zuWahlkarten wurde vereinfacht

Positiv zu bewerten ist der vereinfachte Zugang zu Wahlkarten, um Menschenansammlungen vor und in den Wahllokalen zu verhindern. Wahlkartenanträge wurden an alle Haushalte verschickt und konnten über die Homepage der Stadt Wien beantragt werden. Auch Parteien bewarben deren Nutzung intensiv. Das Einsenden wurde durch ein Direct Mailing System und zusätzliche Briefkästen samt Sonntags-Entleerung erweitert. Bis zum 9. Oktober wurden 382.214 Wahlkarten beantragt, was mit 28 Prozent der Wahlberechtigten und rund 40 Prozent der abgegebenen Stimmen mehr als einer Verdoppelung gegenüber 2015 entspricht.

In manchen Bezirken wählten bis zu 60 Prozent per Wahlkarte. Dieser signifikante Anstieg führte zu logistischen Herausforderungen, die seitens der Post ohne zusätzliches Personal bewältigt wurden. In den Bezirkswahlbehörden dauerte die Auszählung trotz unterstützender MitarbeiterInnen bis spät in die Nacht des Dienstags.

Bemängelt wurde, dass Wahlberechtigte das Eintreffen ihrer Wahlkarten und deren Aufnahme in die Auszählung nicht überprüfen konnten. Dies wäre aufgrund des verwendeten QR-Codes möglich, wurde aber nicht umgesetzt. Angesichts der steigenden Beliebtheit dieser Art der Stimmabgabe wäre ein solches Service bei künftigen Reformen zu erwägen. Die Verzögerung bei der Auszählung der Wahlkarten spricht zudem für eine Neuregelung des Zählverfahrens, um früher zu Ergebnissen zu gelangen, als es bei dieser Wahl der Fall war. Ob die Covid-19-Maßnahmen tatsächlich Ansteckungen verhinderten oder der Wahltag zu einer weiteren Verbreitung der Pandemie führte, bleibt abzuwarten. Die rückläufige Wahlbeteiligung von 65,27 Prozent kann jedenfalls nicht ausschließlich Covid-19-Bedingungen zugeschrieben werden.

Eingriffe ins Wahlrecht priorisierten den Schutz

Aus der Sicht zivilgesellschaftlicher WahlbeobachterInnen wird der Wien-Wahl ein gutes Zeugnis in Bezug auf Gestaltung, Kommunikation und Umsetzung der Pandemie-Maßnahmen ausgestellt. Der Wahlkampf wurde nicht über die allgemeinen Corona-Gesetze hinaus reglementiert, und Einschränkungen bei Großveranstaltungen beruhten auf Freiwilligkeit der Parteien. Eingriffe ins Wahlrecht priorisierten den Schutz der Wahlberechtigten und wahldurchführenden Personen sowie das sichere Zustandekommen der Wahl und waren zeitlich begrenzt, was im europaweiten Vergleich ein positives Beispiel demokratiepolitischer Verhältnismäßigkeit abgibt.

Aus Sicht der WählerInnen ergab die Umfrage von wahlbeobachtung.org eine hohe Akzeptanz der getroffenen Schutzmaßnahmen und weitgehende Zufriedenheit mit der Abwicklung der Wahl unter Bedingungen von Covid-19.