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Rechtspositivist und Rechtspragmatiker Kelsen

Von Nikolaus Lehner

Recht
Das Original der Bundesverfassung aus dem Jahr 1920.
© Österreichisches Staatsarchiv/Collage

Eine Sammlung der wichtigsten Schriften Horst Dreiers zu Hans Kelsen, dem Architekten der heuer 100-jährigen österreichischen Bundesverfassung, widmet sich der Reinen Rechtslehre.


Da die österreichische Bundesverfassung 2020 das 100-jährige Jubiläum feiert, haben sich aus diesem Anlass der Rechtshistoriker Thomas Olechowski mit seiner Biographie über Hans Kelsen und der Rechtswissenschafter Horst Dreier mit einem Sammelwerk zur Rechtswissenschaft von Kelsen beschäftigt. Beide Werke erschienen im Verlag Mohr Siebeck.

Ähnlich wie Kelsen, der sich fünf Jahrzehnte mit "seiner" Reinen Rechtslehre beschäftigte, hat sich auch Horst Dreier zwei Jahrzehnte im Kontext mit seiner Habilitation damit auseinandergesetzt. Dazu erschienen die Vorgängerbände "Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates" und "Staatsrecht in Demokratie und Diktatur, Studien zur Weimarer Republik und zum Nationalsozialismus".

Meine Rezension betrifft allein den dritten Band "Kelsen im Kontext". In der Einleitung rezipiert Dreier die Biographie Kelsens im Vergleich zu Olechowski in einer schlanken Form und erörtert in der Folge die Kernaussagen Kelsens insbesondere durch Abgrenzung gegenüber anderen berühmten Juristen des 20. Jahrhunderts, wie etwa Carl Schmitt, Rudolf Smend und andere. Weiters erläutert Dreier das Engagement Kelsens für individuelle Freiheit, Gleichheit und demokratische Staatsgestaltung.

Dreier beweist, dass Kelsen mit seiner Reinen Rechtslehre nicht als isoliert anzusehen ist, weil sich die bedeutenden Rechtswissenschafter Reinhard Merkel, Gerhard Anschütz, Richard Thoma, Max Weber und Niklas Luhmann jeweils aus ihrer Positionierung mit Kelsen auseinandergesetzt haben. Laut Dreier hat sich Kelsen mit seiner Habilitationsschrift "Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze" zu einem der wichtigsten Rechtswissenschafter positioniert.

Selten positiv bewertet

Im Kontext kritisiert Dreier, dass die so wichtigen Arbeiten Kelsens in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg selten positiv bewertet wurden. Eines der Motive war, dass sich die Rechtswissenschafter seit den 30ern überwiegend auf das Naturrecht bezogen haben. Zum Unterschied dazu forderte Kelsen mit seinem Rechtspositivismus einen unreflektierten Gesetzesgehorsam ein. Auch hier ergreift Dreier Kelsens Partei, weil sich dieser sehr wohl auf die Moral und Verantwortung der Staatsbürger bezogen hat und daher ein Widerstand gegen staatliche Gesetze zulässig sei.

Eine seiner Hauptforderungen betrafen die Grund- und Menschenrechte, dass alle gegensätzlichen Strömungen transparent zu machen seien. Dreier rapportiert, dass Schmitt und Smend für ein autoritatives Staatsverständnis Schrittmacher waren und nicht wie Kelsen die Grund- und Menschenrechte als oberste Maxime im demokratischen Rechtsstaat ansahen. Bester Beweis ist, dass Smend infrage stellte, ob Geisteskranke Mitglieder des Staates sein können.

Dreiers Narrativ ist der Umstand, dass die Reine Rechtslehre völlig ideologiefrei auf das Methodologische fokussiert war.

Kelsen war bekanntlich jüdischer Abstammung, wobei sich das nie in Kelsens Aussagen widerspiegelte, sondern im Gegenteil Kelsen immer über den Dingen stand.

Obwohl sich Dreier lang mit Kelsens Lehre und seinen wissenschaftlichen Gegnern auseinandersetzte, vermisse ich eine historische verwunderliche Behauptung Kelsens: nämlich, dass er der Ansicht war, dass für die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges nur der Führer und der japanische Kaiser verantwortlich seien, weil alle anderen nur Weisungsempfänger waren.

In seinem Werk "Kelsen im Kontext" taucht neben dem strengen Rechtspositivisten Kelsen als Rechtswissenschafter auch der Rechtspragmatiker Kelsen auf, der sowohl Gesetzgebung als auch Rechtsanwendung befruchtet hat. Erstere durch seine mehrmaligen Entwürfe einer Verfassung für die Republik Österreich und die Schaffung des Verfassungsgerichtshofes, in dem er über ein Jahrzehnt Mitglied war; Zweitere durch Entwicklung der abstrakten Grundform im Stufenbau der Rechtsordnung mit Auslegungsregeln, wie sie noch ein älteres legistisches Meisterwerk enthält: das ABGB mit den §§ 6 und 7 aus 1811.