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Justiz in Österreich 2050

Von Oliver Scheiber

Recht
© WZ-Montage/adobe.stock/Tiko

Durch die Volldigitalisierung der Akten entstehen keine Verzögerungen: Diese Vision der österreichischen Justiz blickt in die Zukunft und beschreibt, wie das Strafrechtssystem einmal aussehen könnte.


Seit 35 Jahren lebt die Richterin in der Seestadt Aspern in Wien, seit einigen Monaten hat sie ihren Arbeitsplatz vor der Haustüre. Das neue Gerichtsgebäude in der Seestadt soll durch seine Glasfassaden Transparenz signalisieren. Es hat nicht nur das Strafgericht für die Bezirke jenseits der Donau aufgenommen, sondern auch eine Gerichtshilfe sowie Universitätsinstitute für Forensik, für Kriminologie und für Psychologie - Justiz und Universität Wien kooperieren eng. Die Richterin nutzt die letzten Junitage, ehe das gesamte Land für Juli und August in die Sommerpause tritt - 2040 hat sich Österreich entschieden, das öffentliche Leben in den Sommermonaten weitgehend stillzulegen; zu heiß sind die Sommer in Folge des Klimawandels geworden.

Die Verhandlung wird audio- und videoaufgezeichnet

Heute verhandelt die Richterin am Vormittag den zweiten Abschnitt einer Hauptverhandlung. Die Verhandlung wird, wie alle gerichtlichen Verhandlungen und Termine, audio- und videoaufgezeichnet. Vor sechs Wochen wurde der Angeklagte, ein jugendlicher Einbrecher, im ersten Abschnitt der Hauptverhandlung schuldig gesprochen. Danach wurden, wie es die Zweiteilung der Hauptverhandlung vorsieht, weitere Erhebungen zu den Lebensumständen und der Persönlichkeit des Täters geführt, um die Strafe gezielter festlegen zu können. Nach Befassung von Sozialarbeitern, Psychologen und einem runden Tisch mit Angehörigen und Bezugspersonen des Täters wird heute die Sanktion endgültig festgelegt werden.

Zur selben Zeit wird in einem Supermarkt am anderen Ende der Stadt ein Ladendieb angehalten. Kurz darauf trifft ein interdisziplinäres Team bestehend aus einer Polizeibeamtin und einem Sozialarbeiter ein und kontaktiert nach einem kurzen Gespräch mit Zeugen und dem Verdächtigen den zuständigen Richter. Er entscheidet, wie seit der Strafrechtsprozessreform vorgesehen, dass das Strafverfahren ausgesetzt wird und der Fall rein sozialarbeiterisch behandelt wird. Noch am selben Tag wird ein Sozialbetreuer mit dem Verdächtigen zusammentreffen. Er wird in etwa drei Monaten der Staatsanwaltschaft entweder vorschlagen, das gerichtliche Strafverfahren einzustellen oder fortzuführen. Sollte es zu einem Verfahren kommen, dann wird dieses Strafverfahren so starten, wie es bei Zivil- und Familienrechtsverfahren schon lange üblich ist: mit einem ersten Termin in Form eines runden Tisches, bei dem alle Beteiligten gemeinsam einen Fahrplan für das weitere Verfahren entwerfen. Der Richter oder die Richterin entscheidet nur, wenn sich keine Einigung zum Prozedere findet - in der Praxis der absolute Ausnahmefall.

Auch in der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft geht es hektisch zu. Sie war einst die erste Staatsanwaltschaft, die nicht im Gebäude des Gerichts untergebracht war - mittlerweile sind alle Staatsanwaltschaften ihrem Beispiel gefolgt. Um die Abgrenzung vom Gericht und die Waffengleichheit zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft zum Ausdruck zu bringen, sind sämtliche österreichische Staatsanwaltschaften in eigenen Gebäuden untergebracht. Durch die Volldigitalisierung der Akten entstehen dadurch keine Verzögerungen. Die Staatsanwaltschaften wurden einem Beispiel Italiens folgend im Jahr 2040 in die völlige Unabhängigkeit entlassen, was die Dauer der Ermittlungsverfahren in großen Wirtschafts- und politischen Causen um rund 75 Prozent verkürzt hat.

Neue Abteilung für Umwelt- und Lebensmittelkriminalität

War in den Verfahren der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft früher Untersuchungshaft die Ausnahme, so sind derzeit rund 50 anhängige Haftsachen die Regel. Allein die neue Abteilung für Umwelt- und Lebensmittelkriminalität mit ihren 20 StaatsanwältInnen betreut gerade über zehn Haftfälle. Eben verlässt eine Presseinformation die Staatsanwaltschaft, in der über die Beschlagnahme der Gebäude eines Immobilieninvestors berichtet wird. Seit eine eigene Agentur zur Betreuung und Verwaltung beschlagnahmter krimineller Gelder eingerichtet wurde, setzen die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte das Instrument der Konfiskation häufig ein. Das Unternehmensstrafrecht wurde vor kurzem neu gefasst; seither führen die Staatsanwaltschaften eine zunehmende Zahl von Verfahren gegen Unternehmen. Bestimmte Verurteilungen führen automatisch zum Entzug der Gewerbeberechtigung beziehungsweise zur Bestellung eines staatlichen Verwalters des Unternehmens.

Abschluss des Programms der Neubauten von Justizanstalten

In diesem Sommer 2050 wird das Justizministerium das Programm der Neubauten von Justizanstalten abschließen. Die letzten historischen Gefängnisse mit ihrer nicht mehr zweckgemäßen Architektur und Bausubstanz sind geschlossen. Der österreichweite Häftlingsstand hat sich nach dem Ausbau der Alternativen zur Haft auf rund 2.500 gegenüber 8.000 bis 9.000 Häftlingen am Anfang dieses Jahrhunderts reduziert.

Internetzugang und Handy sind im Strafvollzug längst Selbstverständlichkeiten; viele Insassen absolvieren online Ausbildungsprogramme. Aktuell wendet sich das Justizministerium seinem nächsten Großprojekt zu: Eine neue Justizakademie soll als Post-Graduate-Center die Aus- und Fortbildung nicht nur der RichterInnen und StaatsanwältInnen, sondern aller Justizbediensteten organisieren. Es ist der erste größere Reformschritt in der Ausbildung seit 20 Jahren - damals wurde die Gerichtspraxis um ein verpflichtendes Berufsjahr im Sozialbereich ergänzt, das Voraussetzung für die Richter*innenausbildung wurde.

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Der vorliegende Text geht auf eine Idee der Redaktion des flatterblatts zurück, der Zeitschrift der RichteramtsanwärterInnen im Sprengel des Oberlandesgerichts Wien. Die Redaktion lud Richterinnen und Richter ein, Visionen der österreichischen Justiz im Jahr 2050 zu zeichnen. Der Text blickt also 30 Jahre in die Zukunft und beschreibt, wie das Strafrechtssystem im Jahr 2050 aussehen könnte. Eine stark gekürzte Fassung erschien in Heft 4/2020 des flatterblatts.