Die Neigung, Befugnisse auszudehnen, ist altbekannt und eine der Ursachen von Kontrollmechanismen. Diese wirken nicht von selbst. Gelegentlich kommt es vor, dass eine Anzeige oder Sachverhaltsdarstellung von einer Staatsanwaltschaft "mangels Anfangsverdachts" nicht weiter bearbeitet und durch die Mitteilung erledigt wird, von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abzusehen. Die rechtliche Deckung solcher Entscheidungen erschließt sich nicht ohne weiteres, vor allem dann nicht, wenn es an einer Begründung fehlt. Offenbar hält sich das staatsanwaltliche Organ für ermächtigt, dem gesetzlichen Auftrag zur Aufklärung von Straftaten (§ 2 StPO) nach eigener Einschätzung Rechnung zu tragen oder auch nicht.
Um der Staatsanwaltschaft diese Sonderstellung zu verschaffen, bedürfte es einer Ausnahmebestimmung zur allgemein verbindlichen Anordnung des Art. 18 Abs. 1 B-VG, wonach die gesamte staatliche Verwaltung nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden darf (Legalitätsprinzip). Eine solche Klausel ist nicht vorzufinden.
Die Annahme, für Staatsanwälte sei die enge Bindung an die Verfassung eine selbstverständliche Voraussetzung, zieht nach sich, dass § 2 der StPO gemäß Art. 18 Abs. 1 B-VG anzuwenden ist; und im Anschluss daran, dass überprüft wird, inwieweit die Praxis mit den Vorgaben Schritt hält. Die Aufgaben der Staatsanwaltschaft dahingehend umzudeuten, es bestehe Wahlfreiheit, Straftaten aufzuklären oder davon Abstand zu nehmen, lässt sich mit der Verfassung schwerlich vereinbaren.
Eigengesetzlichkeiten und Schneeballeffekte
Staatsanwaltschaften, die die Einleitung von Ermittlungen "mangels Anfangsverdachts" abgelehnt haben, werden kaum darauf verzichten, sich dieser Entscheidungshilfe zu bedienen. Dafür sorgt allein ihre notorische Überlastung. Die Beispielwirkung dieser Formel lässt erwarten, dass Eigengesetzlichkeiten und Schneeballeffekte entstehen. Bemerkt werden sollte dies allerdings binnen kurzem: Die den Aufsichtsorganen ohnehin zu erstattenden Berichte gesammelt auszuwerten und auf ihre Übereinstimmung mit den Geboten der Rechtsstaatlichkeit zu prüfen, zählt im Justizministerium zur Routine. Auf Abweichungen von der Grundregel des Art. 18 Abs. 1 B-VG und auf die Entwicklung eines divergenten Selbstverständnisses in einzelnen Staatsanwaltschaften ist Bedacht zu nehmen.
Hoffentlich nur als seltener Betriebsunfall zu registrieren ist es, wenn eine Staatsanwaltschaft ihre ablehnende Haltung zur Aufnahme von Ermittlungen dadurch erläutert, dass sie sich auf ihre ebenso negative Erledigung in der Vergangenheit beruft. Des Näheren stellt sich heraus, dass diese Staatsanwaltschaft eine mehrere Jahre zurückliegende Anzeige auch damals mangels Anfangsverdachts und ohne Begründung abgelegt hat. Das genügte zur Wiederholung und Bekräftigung der Abweisung im nachfolgenden Anlass, diesmal zusätzlich wegen "entschiedener Rechtssache". So wird überlagert, dass die Staatsanwaltschaft ursprünglich gar nicht eingeschritten ist, ihre Untätigkeit später aber mit einer Entscheidung gleichsetzt. Die Benützung des Rechtsbegriffs der "entschiedenen Sache" ("res iudicata") schneidet die neuerliche Überprüfung von unterdessen erweiterten Verdachtsmomenten ab; mit einer Fülle negativer Konsequenzen, wie etwa der indirekten Rechtfertigung des verdächtigen Verhaltens, seiner dadurch nahegelegten Fortsetzung und der Entwertung der strafrechtlichen Generalprävention, die gleichartige Taten verhindern soll. Ein einziger Präzedenzfall begünstigt die Ausbreitung einer Verwaltungsübung, Nichtakte einer Verwaltungsbehörde in den Rang einer Gerichtsentscheidung zu heben. Die Trennung der Justiz von der Verwaltung (Art. 94 B-VG) wird ausgeklammert.
Dem Justizministerium fehlt es demnach nicht an Motiven, den Einzelfall, seine Auswirkungen und deren Vorbedingungen einer Revision zu unterziehen.