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Strafrecht als Spielball der Politik

Von Nikolaus Lehner

Recht

Ein analytischer Blick auf die Schwächen der Strafrechtslegistik - und über die Notwendigkeit kriminalpolitischer Anliegen.


Nachdem ich bereits vor fünf Jahren den Sammelband "Dem Strafrecht verschrieben" von Richard Soyer und Alexia Stuefer rezensiert habe, muss ich leider feststellen, dass sich am Gesamtzustand der Justiz zu wenig verbessert, allerdings sogar manches verschlechtert hat. Indiziert ist diese unhaltbare Entwicklung schon allein dadurch, dass die gesellschaftliche Bedeutung der Justiz von der jeweiligen Regierung sträflich unterschätzt und budgetär regelmäßig vernachlässigt wird. Im Kontext erinnere ich an die jeweilige Auswahl der Justizminister, die Entscheidung war jeweils machtsystemkonform und nicht nach Qualifikationskriterien getroffen worden.

Die Verfasser haben einen neuen (Fortsetzungs-)Band ihrer durchwegs kurzen Beiträge in Fachzeitschriften, Sammelbänden und Tagespresse herausgegeben. Unter dem Titel "Der Kampf um das Strafrecht", nachempfunden einem Werktitel von Rudolf von Jhering, 1872, aber mit demselben Untertitel: "Kriminalpolitische Glossen", der lediglich die äußere Gestalt der fachlichen Beiträge beschreibt.

Botschaften so rasch wie möglich diskutieren

Die Autoren Soyer und Stuefer (nebst einigen Co-Autoren aus der Wiener Rechtsanwaltskanzlei und dem Strafrechtsinstitut der Universität Linz) müssen einem strafrechtsaffinen Leserkreis nicht vorgestellt werden. Beide sind bestens ausgewiesene Anwälte in Wien, fokussiert auf Strafverteidigung; beide sind zugleich der wissenschaftlichen Strafrechtslehre zuzurechnen: Soyer, Universitätsprofessor in Linz, Stuefer, Lehrbeauftragte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien; beide Verfasser zahlreicher Fachpublikationen sowie international tätige Vortragende.

In Hinblick auf ihre große Erfahrung im Strafrecht und in der Kriminalpolitik denke ich, dass es der Justizpolitik zum Wohle gereichen würde, die Botschaften der Autoren so rasch wie möglich zu diskutieren und in der Folge umzusetzen.

Voraussetzung dafür wird allerdings sein, dass im Vorfeld die schädlichen atmosphärischen Spannungen zwischen Justizsektion und Oberstaatsanwaltschaft einerseits und Korruptionsstaatsanwaltschaft andererseits beendet werden.

Ihre reiche forensische Erfahrung bildet neben der tiefreichenden Kenntnis des Strafrechts die Grundlage sowohl für den analytischen Blick auf die Schwächen der gegenwärtigen Strafrechtslegistik und -anwendung, als auch für die Notwendigkeit vieler kriminalpolitischer Anliegen. Der oft populistischen Anlassgesetzgebung der Politik wird ein rigoroser Spiegel vorgehalten: "Tiefgreifende Eingriffe in fundamentale Grundrechte schleichen sich auf leisen Pfoten in die Rechtsordnung ein und zeigen sich im Strafrecht in schärfster Form."

Gleichzeitig sind diese Grundlagen auch das Baugerüst einer rationalen Kriminalpolitik, die den Diskurs mit anderen Strafrechtsordnungen sowie die Ansätze einer europäischen Strafrechtsentwicklung im Gebäude der Freiheit, Sicherheit und des Rechtes mit einschließt.

Die Verfassung verpflichtet die Bundesgesetzgebung, im Bereich der Justiz neben Gericht und Staatsanwaltschaft auch die Verteidigung zu konstituieren. Sie ist - um mit Kelsen zu sprechen - im höchsten Rang des innerstaatlichen Stufenbaus der Rechtsordnung verankert. Die Ausübung von Verteidigung ist ebenso wie Recht sprechen, Straftaten aufklären und anklagen angewandtes Verfassungsrecht.

Zu einigen Postulaten der Autoren merke ich Folgendes an: Die Sachverständigenproblematik ist nicht bloß Aufgabe des Gesetzgebers. Es liegt auch an den Experten selbst, dem Misstrauen der Justiz zu begegnen. Die Standesregeln des Fachverbandes der Österreichischen Gerichtssachverständigen schreiben vor, dass alle mit Eid übernommenen Verpflichtungen auch bei der Erstattung von Privatgutachten einzuhalten sind.

Strafvollzug liegt besonders im Argen

Verbessern lässt sich die Qualitätssicherung mit denselben Modellen, wie es sie schon im wissenschaftlichen Bereich gibt. Meiner Meinung nach ist die Nichtzulassung von Gutachten eines Privatsachverständigen ein Problem, weil dieses Gutachten die Grundlage für das Aufzeigen formaler Mängel des Gerichtsgutachtens bildet und bei der Formulierung von Beweisanträgen und bei der Ausübung des Fragerechts des Anwalts gegenüber dem Gerichtssachverständigen in der Hauptverhandlung wertvoll sind.

Besonders im Argen liegt der Strafvollzug, ein völlig veraltetes Gesetz aus 1969 (!), mit einer Vielzahl von Novellen. Stuefer als Expertin moniert, dass die Häftlinge, obwohl sie nach dem Gesetz auch betreut werden sollen, de facto nur bewacht werden. Es mangelt, abgesehen vom unzureichenden Budget, nicht so sehr an der Schulung, Ausbildung und Geisteshaltung der Vollzugsbeamten, sondern auch hier primär an fehlender Bereitschaft zur Orientierung an wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Unternehmensstrafrecht ist so gut wie totes Recht

Völlig anderer Meinung als Soyer bin ich, was seine Überlegungen zum Unternehmensstrafrecht betrifft. Es ist nämlich in Österreich so gut wie totes Recht, weil nur aus Opportunitätsgründen ermittelt wird. Es müsste das Legalitätsprinzip gelten, welches verhindern würde, dass die eigentlich Verantwortlichen nur aus Mangel an Ressourcen, ja sogar "weil kein Strafbedürfnis vorliegt", nicht verfolgt werden. Klassisches Beispiel ist das Verbandsverantwortlichkeitsgesetz, dessen verstärkte Anwendung zu einer deutlich effizienteren Bekämpfung von Korruption und Wirtschaftskriminalität führen würde.

Soyer meinte zuletzt, man sollte endlich aufhören, die Justiz zu Tode zu sparen und den Polizeiapparat mit Geld zu überschwemmen. Ich denke, dass eine Stärkung der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft dringend notwendig ist.

Die immerhin 28 gesammelten Artikel und Aufsätze von 2016 bis 2020 mit sehr klaren, zielgerichteten, zum Teil auch polemischen Überschriften folgen allesamt einem roten Faden: dem Versuch, die wesensimmanente Dichotomie des Strafrechts zwischen Freiheit und Sicherheit mit legistischen und anwendungsorientierten Korrekturen ein wenig aufzulockern.

Mögen die Autoren weiterhin so rege literarisch tätig sein, damit wir spätestens in fünf Jahren einen ebenso gediegenen wie spannenden Abriss der kommenden Strafrechtsentwicklung erwarten dürfen.