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Der Mensch im Mittelpunkt des Rechts

Von Nikolaus Lehner

Recht
Die Justiz ist aufgerufen, dem Guten und Gerechten zu dienen.
© adobe.stock / Sonja Janson

Der "Linzer Kommentar zur Strafprozessordnung" folgt diesem Aufruf.


Im Mittelpunkt des Rechts steht der Mensch mit all seinen individuellen und kollektiven Bedürfnissen und Interessen. Die Justiz mit den Richtern und Staatsanwälten ist aufgerufen, dem Guten und Gerechten zu dienen (Celsus: "Ius est ars boni et aequi."). Diesem Aufruf folgt auch der im Verlag Österreich erschienene "StPO - Linzer Kommentar zur Strafprozessordnung".

Die Herausgeber Alois Birklbauer, René Haumer, Rainer Nimmervoll und Norbert Wess haben mit weiteren 48 Autoren einen praxisnahen, sehr übersichtlich gehaltenen Kommentar zur StPO verfasst.

Dieser kann mit dem legendären Kommentar von Leukauf/Steininger verglichen werden. Beide sind besonders praxisbezogen, kompakt, aber dennoch ausgewogen, sodass sich der Linzer Kommentar auch mit der Ausführlichkeit des Wiener Kommentars zur StPO messen kann.

Im Fachjargon wird der Linzer Kommentar als benutzerfreundlich und handlich bezeichnet, da er übersichtlich gestaltet ist und durch die Zitierweise von Gerichtsentscheidungen mittels Geschäftszahl und Rechtssatznummer die weiterführende Verlinkung mit dem kostenfreien Rechtsinformationssystem des Bundes gewährleistet. Auffallend ist der "frische Wind", der nun auch durch die StPO weht. Im Vergleich zu früheren Kommentaren sind nunmehr die Notationen zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen im Hinblick auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und das Zusatzprotokoll der Menschenrechtskonvention relevant.

Durch die zunehmende Bedeutung des internationalen Rechts verschiebt sich das Gewicht vom materiellen zum formellen Recht, weil die EMRK das Prozessrecht viel stärker beeinflusst als das materielle Recht.

Unparteilichkeit fraglich

Wie "erfrischend" dieser "Wind" ist, zeigt schon der Kommentar zu § 1 StPO (Grundsätze des Strafverfahrens). Hier manifestiert die Schaffung neuer Begriffe, wie "der Verdächtige", die Abkehr von einer Vorverurteilung und den Willen nach Objektivität. Der "alte" Begriff des Beschuldigten, dessen Verfahren in der Folge eingestellt wurde, der aber vorher durch die Medien stigmatisiert wurde, ist damit Geschichte.

Heikel und prekär ist das Gebot der Objektivität und Wahrheitserforschung in § 3 StPO. Ich behaupte, dass der Abs. 2 des § 3 StPO reine Illusion, ja sogar Chimäre, ist, da die Weisungsgebundenheit und damit Unabhängigkeit der Staatsanwälte und der Kriminalpolizei eine Unparteilichkeit nicht zulässt.

Das nach § 4 StPO normierte Legalitätsprinzip ist meines Erachtens durch die Einführung des Opportunitätsprinzips, zum Beispiel § 18 VbVG (Verbandsverantwortlichkeitsgesetz), dadaistisch unberechtigter Weise geschwächt worden, weil doch ökonomische Motive nie eine Rolle spielen dürften. Das Postulat, dass die Staatsanwaltschaft ein Justizorgan sei, ist realitätsfern, weil sie tatsächlich weisungsgebunden ist und nur die Gerichte wirklich unabhängig sind. Zu § 7 StPO - (Recht auf Verteidigung) - finde ich die Ausführungen berechtigt, ob die zu tragen sind, und ob dies mit Art. 6 Abs. 3-c EMRK in Einklang gebracht werden kann.

Im § 10 StPO - (Beteiligung der Opfer) - macht der Linzer Kommentar die rechtspolitische Anregung, im Interesse der Rechtspflege dem anwaltlich unvertretenen Angeklagten, der einem vertretenen Opfer gegenübersteht, einen Verfahrenshilfe-Verteidiger beizugeben. Ein Herzstück der notwendigen Reformen der vergangenen Jahre war die Schaffung einer zentralen Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen (WKStA): § 20-a und § 20-b StPO.

Der Kommentar verweist auf das internetbasierte BKMS-Hinweisgebersystem, wonach Straftaten auch anonym angezeigt werden können. Die Stipulation dieser Tatbestände im Rahmen der StPO war und ist (meines Erachtens noch immer nicht fehlerfrei) besonders kompliziert.

Groteske um Weisungsrecht

Grotesk erscheinen - insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion über eine Bundesstaatsanwaltschaft - die im Linzer Kommentar angeführten Argumente für ein notwendiges Weisungsrecht. Insbesondere das Argument, dass der Zweck die Herbeiführung oder Wahrung einer einheitlichen Rechtsprechung sei, geht ins Leere, weil das Recht immer noch von den Gerichten gesprochen wird und die Staatsanwaltschaften vor allem an den unberechtigten Interventionen und der ausgeuferten Berichtspflicht leiden. Ob die derzeit wieder einmal angekündigte Reform der Staatsanwaltschaften daran etwas ändern wird, bleibt abzuwarten.

Bemerkenswert: Per se im Linzer Kommentar zu § 23 StPO können sogar verfahrensfremde Personen eine Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes anregen.

Bedenklich: Nach den Normen der Delegierung und der Abtretung eines Aktes der Staatsanwaltschaft durch diese sind die Nahtstellen und Berührungspunkte zur Sonderkonstellation der WKStA in einer Form geregelt, dass ich behaupte, "komplizierter geht’s nicht mehr". Formulierungen wie "ohne unnötigen Aufschub" (§ 171 StPO), "untergeordnete Bedeutung"(§ 26 StPO), "Dauer und Umfang der Ermittlungen" (§ 26, § 108a StPO) sind unbestimmt und müssten - immerhin geht es um die Freiheit - einer gesetzlichen Definition zugeführt werden.

Wissenswert: Zu § 29 StPO wird im Linzer Kommentar ausgeführt, dass die richterliche Unabhängigkeit nicht gegenüber Dienst-Vorgesetzten im Bereich der Justizverwaltung gilt. Insofern sind deren Organe auch berechtigt, gerichtliche Entscheidungen zu kritisieren und abweichende Rechtsansichten zu vertreten, nicht aber, mit den Mitteln des Dienstrechts Druck auf unabhängige Richter auszuüben, um ein von ihnen gewünschtes Ergebnis zu erreichen.

Im Kommentar wird zu § 43 StPO treffend festgestellt, dass das Gesetz nicht mehr zwischen Ausschließung und Befangenheit von Gerichtspersonen unterscheidet. Kritikwürdig ist der weitere Kommentar, als er zwar festhält, dass bei Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft im Gesetz weiter der Terminus "Befangenheit" verwendet wird - dieser unterschiedlichen Begrifflichkeit käme aber keine besondere Bedeutung zu.

Der Linzer Kommentar findet es kafkaesk, dass ein Richter oder sein Angehöriger als Anzeiger einer strafbaren Handlung nicht ex lege vom Verfahren ausgeschlossen ist.

Gelungen ist er bei den Notationen zum Zweifelsfall und zu den Einzelfall-Entscheidungen zu § 43 StPO insofern, dass im Interesse des Ansehens der Justiz und des Vertrauens in deren Objektivität eine Ausgeschlossenheit eines Richters angenommen werden darf, wobei aber niemals auf die verfassungsrechtliche Vorgabe, das Recht auf den gesetzlichen Richter, vergessen werden darf, um eine ausgewogene Vorgangsweise zu garantieren.

OGH als Heilige Kuh?

Hierbei bleibt ein bedeutendes Problem, nämlich das der Authentizität, wie ich es nenne, ungelöst. Eine gelebte Antipathie eines Richters zum Angeklagten oder zum Verteidiger, Opfer und Zeugen, bleibt im Verborgenen. Denn die Gestik, Mimik und nicht mehr unbefangene Ausstrahlung des Richters im Verhandlungssaal sieht, hört, ja ich behaupte sogar, riecht man, aber ohne die noch immer nicht zugelassene Aufzeichnung eines Prozesses im Interesse des Ansehens der Justiz und des Nachweises über die Verhandlungsführung ist dies nicht nachzuvollziehen.

Mein Abschlussplädoyer lautet: Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) muss einen wirksamen Schutz der Minorität gegen die Übergriffe der Majorität, deren Herrschaft nur dadurch erträglich wird, dass sie rechtmäßig ausgeübt wird, gewährleisten. Daher trete ich für die strittige Rechtsmeinung ein, dass es zu einer Regelung kommen muss, wonach man sich an den VfGH wenden kann, um ein oberstgerichtliches Urteil überprüfen zu können. Ich begründe dies unter anderem damit, dass der Oberste Gerichtshof (OGH) aus 20 Senaten besteht, die trotz § 8 OGH-G (verstärkter Senat) immer wieder widersprechende Entscheidungen treffen, während unser VfGH aus einem Senat besteht und daher mit einer Stimme - das "letzte Wort" - spricht.

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