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Die Zukunft des Grundrechtsschutzes

Von Peter Hilpold

Recht

Die Lücken im grundrechtlichen Schutz sind viel breiter als allgemein bekannt.


Wien setzt immer wieder wertvolle Impulse für die Fortentwicklung des Menschenrechtsschutzes. So auch am 20. Mai 2021 mit der Festtagung "70 Jahre (+1) Europäische Menschenrechtskonvention". Was auf den ersten Blick eine weitere - coronabedingt zeitverzögerte - Zelebration des 70. Wiegenjahres der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch eine epistemische Gemeinschaft befürchten lassen mochte, entpuppte sich als erfrischende, zukunftsorientierte Veranstaltung, die dringenden Handlungsbedarf aufzeigte.

Stellvertretend für die vielen qualitativ wertvollen Beiträge seien die einführenden der Rechtsanwälte Rupert Wolff und Ludwig Weh genannt. Als im internationalen Recht erfahrene und unmittelbar mit der praktischen Anwendung der EMRK betraute Anwälte konnten sie ein realitätsnahes, nüchternes Bild dieses an und für sich sehr wichtigen Instruments zeichnen.

Rupert Wolff hat dazu ein klares Statement abgegeben: Er rät mittlerweile seinen Mandanten von einer Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ab. Diese Äußerung hat zu einigem Aufsehen auf der Tagung geführt. Wahrscheinlich auch beziehungsweise gerade deshalb, weil sie eine offene, ehrliche Feststellung eines mit der Materie bestens vertrauten Praktikers darstellte.

Viele bleiben recht- und schutzlos

Bereits im Vorjahr konnte der Unterfertigte gemeinsam mit Ludwig Weh und Adrian Hollaender in einer Artikelserie in der "Wiener Zeitung" diese Problematik im Detail ausführen. Die Kritik blieb unwidersprochen. Angesichts einer Zulässigkeitsquote im niedrigen einstelligen Bereich ist es tatsächlich nur noch schwierig zu verantworten, Rechtshilfesuchenden den doch auch mit Kosten (anwaltliche Hilfe ist praktisch unverzichtbar) verbundenen Weg zum EGMR anzuraten. Damit bleiben aber zahlreiche Individuen, die objektiv durch das Justizsystem Unrecht erfahren haben, recht- und schutzlos.

Ludwig Weh hat aufgezeigt, dass im Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine starke Alternative herangewachsen ist, zu dem die Unionsbürger aber nach wie vor keinen direkten Zugang haben.

Wenn Bürger in einem nationalen Verfahren die Verletzung ihrer Rechte aus dem Unionsrecht beanstanden, haben sie immer noch kein Recht, sich unmittelbar an den EuGH zu wenden. Sie müssen darauf vertrauen, dass die nationalen Gerichte vorlegen.

An und für sich bestünde zumindest für Höchstgerichte eine Vorlagepflicht, wobei diese nur unter den engen Voraussetzungen der CILFIT-Rechtsprechung entfällt (im Wesentlichen, wenn die Frage bereits entschieden ist, wenn es eine gesicherte Rechtsprechung gibt, wenn die Frage nicht relevant ist beziehungsweise kein Zweifel an der richtigen Auslegung besteht).

Praxis der Gerichte EU-weit völlig uneinheitlich

Die Praxis der Gerichte in dieser Frage ist EU-weit völlig uneinheitlich und selbst innerhalb desselben Mitgliedstaats häufig inkonsistent. De facto haben die Gerichte einen sehr breiten Spielraum. Wer soll über ein Fehlverhalten in solchen Fällen denn auch richten? Ein Vertragsverletzungsverfahren ist kaum realistisch (daran hat auch das EuGH-Urteil in C-416/17 nichts Wesentliches geändert).

Einen Hoffnungsschimmer hat allerdings das EGMR-Urteil im Verfahren Klaus Harisch gegen Deutschland vom 11. April 2019 eröffnet: Die Ablehnung der Vorlage muss detailliert begründet, da ansonsten ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK (faires Verfahren) vorliegen kann. So könnte zumindest gehofft werden, dass sich Höchstgerichte näher - und vor allem rechtlich korrekt - mit den vorgetragenen EU-rechtlichen Beanstandungen auseinandersetzen und damit die Aussicht auf eine Vorlage realer werden kann.

Die Relevanz dieses Ansatzes steht und fällt aber mit der praktischen Wirksamkeit der EGMR-Gerichtsbarkeit. Ein Gerichtssystem jedoch, das nicht einmal fünf Prozent der Beschwerden zulässt (und dabei gerade auch Beschwerden über die unbegründete Nichtvorlage ohne inhaltliche Begründung ablehnt), muss sich genau diesem Vorwurf stellen.

Die Lücken im unionsrechtlichen/grundrechtlichen Schutz sind damit viel breiter als allgemein bekannt. Lösungen wären auf zwei Ebenen denkbar: Einmal könnte national (gegebenenfalls durch eigene gesetzliche und insbesondere ausbildnerische Maßnahmen) dafür Sorge getragen werden, dass die Vorlagepflicht ernst(er) genommen wird. Ein noch eleganterer Weg (auch, weil er unionsweit zu einem einheitlichen Ergebnis führen würde) wäre die Zulassung einer individuellen Grundrechtsklage an den EuGH: in den vergangenen Reformkonferenzen fast verwirklicht, aber im letzten Moment jeweils von einzelnen Mitgliedstaaten verhindert.

Weitere Verschlechterung des Rechtsschutzes droht

Inzwischen droht allerdings schon eine weitere Verschlechterung des Rechtsschutzes unmittelbar von der EU-Ebene: Angesichts der Überforderung des EU-Rechtsschutzsystems hat Generalanwalt Michal Bobek jüngst in seinen Schlussanträgen dem EuGH geraten, die CILFIT-Rechtsprechung sogar noch weiter einzuschränken! Wenn die Sonntagsreden von der "EU-Werteunion" nicht auf breiter Strecke Sonntagsreden bleiben sollen, wäre ein Tätigwerden der Mitgliedstaaten dringend gefordert. Österreich könnte hier mit gutem Beispiel vorangehen.

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