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Juristische Folgen einer polizeilichen Verfolgungsjagd

Von Adrian Eugen Hollaender

Recht

Über die Haftung eines flüchtenden Verdächtigen für den Sturz des ihm folgenden Polizisten.


Ein Verdächtiger läuft bei der Polizeikontrolle davon. Der Polizist läuft ihm nach, kommt dabei zu Sturz und verletzt sich. Trifft den Geflüchteten eine Haftung für die Verletzungen des Polizisten?

Das Thema berührt sowohl im Zivilrecht als auch im Strafrecht eine Streitfrage. Die zivilrechtliche Frage ist, ob der Flüchtende Schadenersatz für Verletzungsfolgen leisten muss. Und die strafrechtliche, ob er sich zum Beispiel einer fahrlässigen Körperverletzung schuldig macht, wenn er durch seine Flucht den Sturz des Verfolgers herbeiführt. Oder ist der Verfolger selbst schuld, wenn er beim Nachlaufen hinfällt?

Dieser Fragenkomplex ist seit jeher ein Hort spannender juristischer Kontroversen.

Oberlandesgericht verneinte, OGH bejahte Haftung

Das Oberlandesgericht Linz (Geschäftszahl: 2 R 60/21p) verneinte in einer neulich entschiedenen Causa jegliche Haftung mit der Begründung, dass die durch die Flucht geschaffene Gefahr für den verfolgenden Polizisten nicht über das allgemeine Lebensrisiko hinausging. Ergäbe sich nämlich die Rechtswidrigkeit der Verletzung des Verfolgers schon aus der Flucht als solcher, hätte dies zur Konsequenz, dass der Flüchtende in jedem Fall für Verfolgungsschäden einzustehen hätte, was einer unzulässigen, weil gegen das Verbot der Verpflichtung zur Selbstbelastung verstoßenden Beugestrafe gleichkäme.

Der Oberste Gerichtshof (OGH) aber revidierte dieses Urteil und bejahte die Haftung mit der Begründung, dass die Flucht eine besondere Gefahr für den Polizisten schuf (Geschäftszahl 1 Ob 158/21y). Der Flüchtende musste davon ausgehen, dass der Polizist bei der Verfolgung im Dunkeln auf wechselndem und teilweise unebenem Untergrund stürzen könnte. Das mit der Verfolgung verbundene Risiko eines Sturzes ging daher über das mit einem normalen Trainingslauf bei guten Sichtverhältnissen stets verbundene allgemeine Verletzungsrisiko hinaus, weshalb der Flüchtende für die Verletzungsfolgen des Sturzes des Polizisten haftbar ist.

Verfassungsrechtliche Selbstbelastungsfreiheit

Ein Beschuldigter darf schweigen. Oder auch lügen. Oder auch weglaufen. Nur aktiv darf er der Staatsgewalt keinen Widerstand leisten. Aber sonst bleibt es ihm unbenommen, bei einer Polizeikontrolle davonzulaufen. Wenn nämlich keine Verpflichtung besteht, sich der Polizei zu stellen, ist auch Flüchten nicht rechtswidrig. Das folgt aus der extensiven Interpretation der verfassungsrechtlich verankerten Selbstbelastungsfreiheit und beruht auf dem Rechtsgrundsatz "nemo tenetur se ipsum accusare".

Wenn ein Verhalten nicht rechtswidrig ist, kann es auch nicht zu einer zivilrechtlichen Schadenersatzpflicht oder gar einer strafrechtlichen Haftung führen.

Aber die Sache ist juristisch komplexer, als sie scheint. Denn ein Davonlaufender schafft ein Risiko für seinen Verfolger, wenn dieser (wie es bei Polizisten der Fall ist) zur Verfolgung verpflichtet ist und wenn die Flucht für ihn über das übliche Lebensrisiko hinausgehende Gefahr schafft. Freilich kann jeder beim Laufen (und somit auch beim Nachlaufen) zu Sturz kommen, aber bei vom Flüchtenden bewusst geschaffenen besonders gefährlichen Umständen für den zur Nacheile Verpflichteten, haftet der Davonlaufende für einen allfälligen Unfall des Nacheilenden. Denn er gefährdet dessen körperliche Unversehrtheit und hat somit in ein absolutes Rechtsgut eingegriffen.

Die Rechtswidrigkeit eines schädigenden Verhaltens wird bei der Verletzung absolut geschützter Rechtsgüter durch eine umfassende Interessenabwägung geprüft. Dabei geht es vor allem darum, ob das Verhalten ex ante geeignet war, den schädigenden Erfolg wahrscheinlich herbeizuführen. Legt man diese Leitlinien zugrunde, dann haftet bei der Verletzung eines Polizisten im Zuge der Verfolgung eines Verdächtigen der Flüchtende immer dann, wenn durch seine Flucht für das zur Verfolgung verpflichtete Polizeiorgan eine Gefahrensituation geschaffen wurde, die deutlich über dessen allgemeines Lebensrisiko hinausgeht.

Folglich begründet nicht jede Flucht eines Tatverdächtigen eine Haftung für Schäden eines ihn verfolgenden Polizisten, sondern nur eine solche, die für den Flüchtenden erkennbar mit einer gesteigerten Gefährdung der absolut geschützten Rechtsgüter des Verfolgers verbunden ist.

Mögliche zivilrechtliche Haftungsfolgen einer Flucht

Flüchten ist also für einen Verdächtigen zwar nicht explizit verboten, aber die möglichen zivilrechtlichen Haftungsfolgen einer Flucht sind nicht zu unterschätzen. Denn wenn die Verfolgungsjagd zu Sachschäden oder gar Personenschäden führt, kann der Flüchtende dafür schadenersatzpflichtig werden. Und mit analoger Argumentation könnte er auch strafrechtlich haften, etwa wegen fahrlässiger oder gar (bei Bejahung eines zumindest bedingten Vorsatzes) vorsätzlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung. Man sollte es sich also zweimal überlegen, bevor man der Polizei davonläuft.

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