Zum Hauptinhalt springen

Die Menschenrechte und die Impfpflicht

Von Wilfried Ludwig Weh

Recht

Für den Verfassungsgerichtshof und den Gesetzgeber gibt es hohe Hürden.


Befürworter einer zwangsbewehrten Verpflichtung zur Covid-19-Mehrfach-Impfung (im Folgenden nur Impfpflicht) meinen, sich auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall Vavricka berufen zu können. Der EGMR habe damit die Impfpflicht "generell" akzeptiert. Seit die Regierungsvorlage (RV) verschickt wurde, behaupten die Regierungspolitiker geschlossen, es sei fix, dass das Gesetz komme, es komme nur noch auf Einzelheiten an. Die RV selbst ist hier deutlich skeptischer, nämlich sachkundiger. Im "Allgemeinen Teil" ist etwa zu lesen, dass die zentrale Vorgabe des Urteils Vavricka, nämlich das Vorliegen "langjähriger Erfahrungswerte mit den Impfstoffen", bei den Covid-19-Impfstoffen nicht erfüllt sei. Die RV zeigt sich dann allerdings als Beispiel unerträglicher Oberflächlichkeit, wenn wörtlich (!) von "allfälligen seltenen oder sehr seltenen Nebenwirkungen der Impfstoffe" die Rede ist.

Es lohnt sich daher, das Urteil des EGMR näher zu untersuchen. Es beruft sich tatsächlich auf langjährige positive Erfahrungen mit bewährten Impfungen, ohne auf diese oder die einzelnen Krankheiten spezieller einzugehen. Strukturell folgt es der jahrzehntelangen Spruchpraxis beider Europäischer Gerichtshöfe (also auch des Gerichtshofs der Europäischen Union zu den Grundfreiheiten) zu den materiellen Grundrechtsvorbehalten.

Maßgeblich ist für den EGMR Art. 8 EMRK, das Grundrecht auf Privatleben und damit auf körperliche Integrität. Eingriffe in dieses Grundrecht sind nur zulässig, wenn sie gesetzlich präzise vorgesehen sind, einem klar definierten Ziel dienen, und wenn sie notwendig und verhältnismäßig in einer demokratischen Gesellschaft sind.

Bei einer Vielzahl von Entscheidungen des EGMR zum Art. 8 EMRK macht in der Regel das Erfordernis der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit in einer demokratischen Gesellschaft die meisten Probleme. Der pauschale Hinweis auf die Seltenheit von "allfälligen" Nebenwirkungen der Impfstoffe wird diesem Erfordernis wohl kaum gerecht. Das Erfordernis der Gesetzmäßigkeit bedeutet, dass die Ausnahmen von der Impfplicht exakt umschrieben werden müssten. Bei der Zielorientierung wäre präzise zu definieren, wer eigentlich genau vor wem gegen was geschützt werden soll. Das ist bisher nicht eindeutig erkennbar.

Amtswegige Prüfung

In einer der brillantesten dissenting opinions, die der Verfasser je gelesen hat, kritisiert der scheidende polnische Richter Krzysztof Wojtyczek im Urteil sowohl die Anwälte als auch den EGMR selbst wegen der Oberflächlichkeit der Argumentation. Bei einem Fall, der eine wichtige Angelegenheit für alle 47 Mitgliedstaaten betreffen würde, sollte der EGMR sich nicht auf die Argumente der Anwälte beschränken, sondern müsste er eine Amtswegige Prüfung der maßgeblichen Entscheidungskriterien durchführen. Dabei verlangt er, dass der Schwerpunkt der Legitimation einer Impfpflicht, also quasi die "Beweislast", auf der Regierung liegen müsste, und beklagt er eine unzulässige de-facto-Beweislastumkehr. Er weist auch die These des EGMR vom "weiten Ermessensspielraum" der Mitgliedstaaten zurück.

Wojtyczek meint zu Recht, dass die Grundsatzfrage einer Prüfung der Impfpflicht darin bestehe, ob der "zusätzliche Wert der Impfungen den schweren Eingriff rechtfertige". Dafür wären "extrem präzise und überzeugende wissenschaftliche Daten erforderlich". Maßgeblich sei auch das Fehlen eines europaweiten Konsenses hinsichtlich der Vertretbarkeit solcher Maßnahmen. Der Gerichtshof habe sich gescheut, sich auf harte wissenschaftliche Daten zu stützen. Auch die Möglichkeit weniger schwerwiegende Eingriffe sei nicht geprüft worden. Der EGMR hätte auch die Qualität des innerstaatlichen Gesetzgebungsverfahrens überprüfen müssen. Statt Fakten reflektiere das Urteil "starke Werturteile ohne ausreichende faktische Grundlage".

Im Fall Covid-19 wird über die Verfassungskonformität einer allfälligen Impfpflicht wohl schon beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) entschieden werden und nicht wie im Fall Vavricka erst acht Jahre später beim EGMR.

Wenn der Gesetzgeber mit der derzeitigen unspezifischen RV und den ständigen öffentlichen Hinweisen aller Minister schon vor Beginn des Begutachtungsverfahrens, dass die Impfpflicht ohnehin schon fix sei, in ein Verfahren vor dem VfGH gehen müsste, sähen die Überlebenschancen des Gesetzes düster aus, wenn die Beschwerdevertreter entsprechend qualifiziert argumentieren. Beim VfGH würde es jedenfalls keinen "weiten Ermessensspielraum des Gesetzgebers" geben können, sondern müsste der VfGH angesichts der Schwere des Grundrechtseingriffs und der großen Zahl Betroffener von einem engen Spielraum des Gesetzgebers ausgehen und eine strenge Verhältnismäßigkeitskontrolle sowie den Nachweis des Fehlens gelinderer Eingriffsmöglichkeiten verlangen. Der VfGH wird daher wohl eine umfassende mündliche Verhandlung mit Sachverständigen durchführen, um sich selbst eine Meinung zu bilden. Ein solches Vorgehen könnte auch den Impfpflichtgegnern das Gefühl vermitteln, dass sich jemand ernsthaft mit ihren Bedenken befasst. Immerhin sieht Wojtyczek auch Art. 9 EMRK, also die Gewissensfreiheit, involviert.

Gesetz zurückstellen

Die Regierung wird demnach gut beraten sein, das Gesetz zurückzustellen, vorerst einmal eine ernstzunehmende RV vorzulegen und ein ernsthaftes Begutachtungsverfahren ohne vorweggenommenes Ergebnis durchzuführen.

Ob ein solches verbessertes Gesetz dann letztlich vor dem VfGH bestehen würde, wird auch von unbestimmten Zukunftsperspektiven abhängen, denn immerhin ist das Gesetz auf zwei Jahre konzipiert und weiß heute noch niemand, wie die aktuelle Omikron-Variante das Gesamtbild verändern wird.

Sie sind anderer Meinung?

Diskutieren Sie mit: Online unter www.wienerzeitung.at/recht oder unter recht@wienerzeitung.at

Zum Autor~