Das Wirtschaftswunder in Österreich verbinden wir mit einem rapide wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die dazu gehörende Erfolgsstory hat aber auch "weiße Flecken", wie die folgende Buchbesprechung zeigt.
Still und leise, wie es der Weihnachtszeit entsprechen sollte, und in der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt aufgrund des Pandemie-Getöses der Medien ist im Dezember 2021 ein bemerkenswertes Buch erschienen. Ein Fachbuch wohlgemerkt. Besser gesagt eine juristische Monografie mit dem eher spröden Titel "Verstaatlichung und Entschädigung in Österreich". Ein Thema, das hierzulande wie "Schnee von gestern" scheint, das aber - Stichwort: Vergesellschaftung privater Wohnungskonzerne in Berlin -tatsächlich brandaktuell ist.

Nikolaus Lehner war 45 Jahre lang als Rechtsanwalt tätig und ist seither Kurator und Kommentator. 2009 wurde er vom Bundespräsidenten zum Professor ernannt.
- © Gregor Schweinester"Wie ein Stahlerbe um sein Recht kämpft" titelte unlängst der Standard einen Artikel dazu - und meint damit Martin Bleckmann, den Autor des im Verlag Österreich erschienen Werks. Dabei liest sich der Klappentext dieses 880-seitigen Opus magnum nüchtern: "Die Verstaatlichung von Unternehmen spielte in der Zweiten Republik eine bedeutende Rolle. In den Jahren 1946 und 1947 wurden zahlreiche Großbetriebe, unter anderem die Schoeller-Bleckmann Stahlwerke AG, per Gesetz verstaatlicht - und ab 1993 wieder privatisiert. Damit ging ein denkwürdiges Kapitel österreichischer Industriegeschichte zu Ende."

Allerdings lässt der Autor an der Aktualität des Themas "Verstaatlichung" keinen Zweifel offen. Heißt es doch weiter: "Die Brisanz dieses kontroversen Themas hierzulande besteht aber fort. Stets ist es dabei um Geld, Macht und Einfluss gegangen. Und auch heute - 75 Jahre später - ist die Aufarbeitung der Verstaatlichung in Österreich noch nicht abgeschlossen. Welche juristische Dimension damit verbunden ist, beleuchtet die vorliegende Monografie." Letzteres, nämlich das Beleuchten, ist meines Erachtens angesichts des Umfangs und Inhalts ein Understatement.
Österreich eine Verstaatlichungsrepublik?
Der Autor, ein namhafter und erfahrener Jurist, durchleuchtet in dem Buch anhand eines konkreten Falles die Rechtsgeschichte und Hintergründe der Verstaatlichung bis zur Privatisierung. Der Untertitel dieses Wälzers, der vermutlich noch politisches Kopfzerbrechen bereiten wird, lautet dementsprechend: "Lex Bleckmann". Denn im Mittelpunkt des Werks steht die Aufarbeitung von Entschädigungsansprüchen betreffend die Schoeller-Bleckmann Stahlwerke AG. Ähnlich den Restitutionsfällen könnte das noch für juristischen Sprengstoff sorgen. Aber alles der Reihe nach.
Unter Verstaatlichung - auch Nationalisierung genannt - ist die Überführung von Privateigentum in Staatseigentum oder die Übertragung privater Aufgaben in staatliche Verantwortung zu verstehen. Die Verstaatlichung in Österreich wurzelt im Untergang der Habsburgermonarchie im Jahr 1918. Zu Beginn der Zweiten Republik kamen zahlreiche Schlüsselunternehmen in das Eigentum der Republik Österreich. Ab 1990 kam es zu weitgehenden Privatisierungen; im Gefolge der weltweiten Finanzkrise ab 2007 aber wieder zu einer erneuten - unfreiwilligen - Notverstaatlichung.
Gelegenheit und Not
Wir kennen alle das Sprichwort: Gelegenheit macht Diebe. Davor ist wohl niemand gefeit. Aber gilt das auch für den Staat? Oder hat es übersetzt für ihn zu heißen: Not macht erfinderisch. Eines ist klar: Der Staat hat bei aller Gelegenheit oder Not stets viele Möglichkeiten. Ja, er kann sich im Unterschied zu uns notfalls auch die Gelegenheit schaffen, ohne Risiko zu stehlen. Er ist also nicht auf den Eintritt einer Gelegenheit angewiesen, sondern kann sie eintreten lassen. Das mutet heute im modernen Rechtsstaat ungewöhnlich an. Aber ungewöhnlich heißt nicht unmöglich. Und heute ist nicht gestern.
Kommen wir zurück auf das Werk von Bleckmann und bleiben wir bei der Gelegenheit. Dabei geht es um das Erste Verstaatlichungsgesetz. Das sagt heute vielen Menschen nichts (mehr), weil das vor rund 75 Jahren passierte. Seither ist auch mit den damals verstaatlichten 70 Großunternehmen viel geschehen: politisch, wirtschaftlich und rechtlich. Der Großteil ist inzwischen privatisiert. Der Rest wird von der staatlichen Österreichischen Beteiligungs AG (Öbag) gemanagt. Etwas aber blieb seit 1946 unverändert: der Zündstoff dieses kontroversen Themas hierzulande. Das hat weniger mit der Sache zu tun; vielmehr mit Ideologien und Emotionen.
Was war geschehen? Gemeinläufig wird auch heute noch die Verstaatlichte als Familiensilber der Republik bezeichnet. Hierbei spielte die Politik der ÖVP und SPÖ von Anfang an eine wesentliche Rolle. Im Gewand des Gesetzgebers - ich komme auf das Geschehen unten nochmals zurück - entschieden die damaligen Großparteien, welche Unternehmen verstaatlicht wurden und wie viel pauschal an Entschädigung dafür zu leisten war. Dagegen gab es damals - heute: unvorstellbar - kein Rechtsmittel. Die Rechtsprechung musste daher den "Dieb" oder "Erfinder" laufen lassen.
Das Verstaatlichungsgesetz wurde am 26. Juli 1946 einstimmig (ÖVP/SPÖ/KPÖ) beschlossen. Es betraf vor allem das Bankenwesen aber auch die Eisen- und Stahlindustrie. Da es sich um Großbetriebe handelte, waren die verstaatlichten Unternehmungen ein wesentlicher Bestandteil der österreichischen Wirtschaft. Vor allem bis in die frühen 1970er Jahre trugen sie durch ihre Gewinne auch zum Staatshaushalt bei. Noch 1970 waren mit etwa 125.000 Arbeitern rund 20 Prozent der Industriebeschäftigten in der Verstaatlichten, die etwa 25 Prozent der Exporterlöse Österreichs erzielte.
Was mich angesichts der von Martin Bleckmann aufgezeigten juristischen Dimension des Themas verwundert, ist, dass sich bisher kaum Juristen, sondern vor allem Historiker und Ökonomen - mit unterschiedlicher politischer Punzierung - der Verstaatlichung wissenschaftlich widmeten. Über das Warum der juristischen Unterbelichtung dieses Themas zu spekulieren, ist meines Erachtens müßig und aufgrund der nunmehr von Bleckmann in eigener Sache - minutiös und präzise - aufbereiteten rechtswissenschaftlichen Analyse hinfällig.
Anhand von - zum Teil bislang unveröffentlichten - Daten und Fakten sowie Gesetzen und Urteilen zur Verstaatlichung zeichnet Bleckmann die Genese von der Verstaatlichung bis zur Privatisierung nach. Erwähnenswert hierbei sind insbesondere die geheimen Verhandlungsprotokolle des Verfassungsgerichtshofs (VfGH). Das ist aber nur der Rahmen des Werkes. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Durchdringung der höchst umstrittenen Vorgänge rund um die Schoeller-Bleckmann Stahlwerke AG. Bleckmann konzentriert sich hierbei auf die Entschädigungsfrage. Denn die Vorfahren des Autors wurden nicht gesetzeskonform - nämlich nur zu einem Drittel - entschädigt, weshalb sie klagten.
Hier beginnt im Rückblick die juristische Odyssee. Die Gegner der Enteigneten waren Politiker und Beamte. Sie waren - bedingt durch das damalige Rechtssystem - übermächtig. Dadurch wurde der Kampf ums Recht zur Farce. Der höchstgerichtlichen Rechtsbeugung 1957 und 1959 folgte der gesetzgeberische Rechtsbruch 1959/60. Damals wurde sogar die Verfassung wegen Bleckmann geändert. Die Änderung - nämlich der ungewöhnliche Paragraf zwölf des Zweiten Verstaatlichungs-Entschädigungsgesetzes als Verfassungsbestimmung - hatte die Suspendierung der Grundrechte zur Folge.
Cold-Case der Verstaatlichten
Die reale Spannung des Buches baut meines Erachtens auf diesen historischen Ereignissen auf. Der Rechtswissenschafter Bleckmann begnügt sich aber nicht damit, das - wie 1957 ein Richter des VfGH meinte - "Unrecht", das seinen Ahnen durch das Vorenthalten einer angemessenen Entschädigung widerfuhr, offenzulegen. Vielmehr knüpft der gelernte Rechtsanwalt Bleckmann daran eine aus Optionen bestehende Strategie. Denn zwischenzeitig gab es wesentliche Änderungen: Der Paragraf zwölf wurde aufgehoben, der Zugang zum Recht wurde eröffnet, und die Grundrechte wurden höchstgerichtlich gestärkt.
Resümee: Der Autor nimmt anhand der bisherigen Geschehnisse die Fährte in der Lex Bleckmann auf und fördert wie bei einer Cold-Case-Ermittlung willkürliche Ungerechtigkeit zu Tage. Und das - wie Irmgard Griss treffend im Geleitwort hervorhebt - "auf vorbildliche Weise. Es hilft damit, den Ingeborg Bachmann zugeschriebenen Ausspruch, die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler, zu widerlegen". Soll heißen: Aus Fehlern zu lernen, gesetzliches Unrecht zu erkennen und der übergesetzlichen Gerechtigkeit zu dienen - all das sind Attribute dieses hervorragenden Werks.