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Die Ukraine und Österreichs Neutralität

Von Peter Hilpold

Recht
So wertvoll ein Neutralitätsstatus in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sein konnte, so problematisch ist dieser in einer Friedensordnung.
© adobe.stock / elmar gubisch

Dass Neutralität zumindest in rechtlicher Hinsicht ein problematisches Konstrukt ist, ist erneut deutlich geworden.


Der sich zuspitzende Konflikt in der Ukraine, auf dessen Boden seit dem 24. Februar 2022 ein regelrechter bewaffneter Angriff vonseiten Russlands vonstattengeht, hat zu einem sich kontinuierlich verschärfenden Zyklus an Sanktionen auch der Europäischen Union geführt. In Bezug auf Österreich hat dieser - wieder einmal - die Frage der Neutralität aktuell werden lassen: Dass Neutralität zumindest in rechtlicher Hinsicht in der Gegenwart ein problematisches Konstrukt ist, ist damit erneut deutlich geworden.

So wertvoll ein Neutralitätsstatus in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sein konnte, also in einer Ära, in der Krieg ein Instrument der Politik war und Staaten zum Selbstschutz zur Neutralität Zuflucht nahmen, so problematisch ist diese Positionierung in einer Friedensordnung, die diesen Frieden durch Solidarität garantieren möchte. Und wenn, wie in der EU, der Solidaritätsgedanken zum leitenden Prinzip wird, gilt dies noch umso mehr. Bundeskanzler Karl Nehammer hat mit dem Satz: "Wer das Völkerrecht missachtet, missachtet auch die Neutralität", das Grundproblem bereits pointiert zum Ausdruck gebracht, mit weiteren Implikationen über den unmittelbaren Anlass hinaus. Welchen Stellenwert soll Neutralität in der modernen Friedensordnung, innerhalb der EU, noch haben?

Schlupfloch durch Klausel

Mit dem EU-Beitritt nimmt Österreich auch an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie an der sich herausbildenden Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) teil. Neutralen wird in Art. 42 Abs. 7 EUV mit der sogenannten irischen Klausel noch ein Schlupfloch vor Beistandsverpflichtungen geboten; ob dieses aber wirklich von einer umfassenderen Solidarität ausnimmt, war von jeher fraglich.

Angesichts zunehmender Krisen weltweit will die EU auch militärisch Präsenz zeigen. Im Schatten der Corona-Krise - weitgehend unbemerkt von der europäischen Öffentlichkeit - hat die Union im März 2021 eine "Europäische Friedensfazilität" geschaffen: Das ist eine Einrichtung mit Rechtspersönlichkeit, die über ein eigenes Budget verfügt (finanziert im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung der Mitgliedstaaten) und die gemeinsame Kosten militärischer GSVP-Operationen und -Missionen, auch zugunsten von Drittstaaten, finanziert. Dieses Budget ist also nicht Teil des allgemeinen Haushalts - grundsätzlich könnten nämlich über diesen Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen nicht finanziert werden (Art. 41 Abs. 2 EUV).

Geschickt Vorsorge betrieben

Wie ist eine solche Vorkehrung mit der Neutralität einzelner Mitgliedstaaten, darunter Österreich, in Einklang zu bringen? Auch diesbezüglich wurde geschickt Vorsorge betrieben, zumindest in der Form, weniger in der Substanz: Neutrale ("Mitgliedstaaten mit einer Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit besonderem Charakter") müssen sich nicht an der Finanzierung von Maßnahmen beteiligen, die mit Anwendung "tödlicher Gewalt" verbunden sind. Sie müssen aber dafür andere Maßnahmen finanzieren - genau zum selben Betrag (bezogen auf ihre Wirtschaftsleistung).

Dementsprechend sind am 28. Februar zwei unterschiedliche GASP-Beschlüsse zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte getroffen worden: Einmal wurden 450 Millionen Euro für militärische Ausrüstung und Plattformen zur Anwendung tödlicher Gewalt zur Verfügung gestellt, zum anderen 50 Millionen Euro für andere Unterstützungsmaßnahmen für die ukrainischen Streitkräfte. Nur der zweite Beschluss verpflichtet Österreich, doch ändert dies nichts an der finanziellen Höhe der Unterstützungsleistung.

Selbst wenn man die Neutralitätsverpflichtung auf ihren engsten Kern reduziert (keine Beteiligung an einem Krieg, kein Beitritt zu einem militärischen Bündnis, keine militärischen Stützpunkte auf seinem Gebiet) ist diese auf der Grundlage dieser Beschlüsse vom 28. Februar 2022 nicht mehr gewahrt. Aber existiert diese Verpflichtung überhaupt noch im Allgemeinen? Das Inkrafttreten der Charta der Vereinten Nationen mit dem System der kollektiven Friedenssicherung und dem naturgegebenen Recht auf Selbstverteidigung, das auch externe Hilfestellung, insbesondere im Falle einer existenziellen Bedrohung eines Volkes zulässt, spricht in zentralen Bereichen dagegen. Dass sich Österreich in das System der GASP und der GSVP einfügt, ist seit 1995 klar.

Internationale Solidarität

Weshalb dann all dieser Formalaufwand mit gesonderten Finanzierungsbeschlüssen? Warum die bemühte "neutralitätsrechtliche Kosmetik"? Weil die EU Rücksicht nimmt auf innenpolitische Bedingtheiten, die, wenn man so will, Österreichs nationale Identität (Art. 4 Abs. 2 EUV) prägen.

Die EU hat in ihrer Konsensfindung regelmäßig weit höhere Hürden zu überwinden als formalen Tribut zu leisten an ein Relikt vergangener Tage. Internationale Solidarität zu zeigen angesichts einer beispiellosen Herausforderung und auch unmittelbaren Bedrohung war es ihr durchaus wert, Hilfe für die Ukraine über zwei gesonderte Beschlüsse zu bewilligen. Weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit wird dies einer intensiven Neutralitätsdiskussion in Österreich nicht entgegenstehen, wobei, so viel kann vorhergesagt werden, die Details der "Friedensfazilität" und des Europarechts insgesamt (wieder einmal) kaum eine Rolle spielen werden.

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