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Niederschriften niederschreiben

Von Daniel Green und Aysun Salvatore

Recht
Sprache ist kein Spiegel einer ewigen, unveränderlichen, in Stein gemeißelten Welt.
© adobe.stock / chokniti

Der komplexe Prozess eines rechtlichen Produkts.


"Mündliche Anbringen von Beteiligten sind erforderlichenfalls ihrem wesentlichen Inhalt nach in einer Niederschrift festzuhalten", normiert § 14 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG1991). Eine Anfrage an die Statistik Austria ergab, dass keine Statistiken zur Gesamtzahl an Niederschriften auf dem Staatsgebiet der Republik Österreich vorliegen. Wie viele Niederschriften beispielsweise in einem Jahr und in welchem Kontext angefertigt werden, ist folglich scheinbar unbekannt.

Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Niederschriften gewissermaßen das Herzstück des österreichischen Verwaltungs(verfahrens)rechts darstellen. Kurz zur Übersicht: Das Verwaltungsrecht umfasst - verkürzt gesprochen - die Spielregeln zwischen Bürgerinnen und Bürgern und dem Staat. Wo Staatsgewalt ausgeübt wird, braucht es ein Regelwerk, das Rechtsunterworfenen Rechte zugesteht und Pflichten abverlangt. Das Verwaltungsverfahrensrecht enthält wiederum die Summe aller Rechtsvorschriften, die verwaltungsbehördliches Handeln etwa vor den Magistraten, den Bezirksverwaltungsbehörden respektive den Landespolizeidirektionen auf eine rechtssichere Basis stellen soll.

Niederschriften werden auch seitens der Prüforgane der Sozialversicherungsträger aufgenommen. Im Verwaltungsverfahren kommt Niederschriften die Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde zu, was eine rechtslinguistische Beschäftigung mit dieser diskursiven Praxis durchaus zu rechtfertigen scheint.

Äußere Gestalt

Die folgenden Ausführungen zielen darauf ab, das Niederschreiben als sprachlichen Prozess und die Niederschrift als (Teil-)Produkt des juristischen Diskurses gemeinsam zu reflektieren. Zum einen ist Niederschrift nicht Niederschrift, denn eine Niederschrift mit einer Polizeibeamtin ist nicht mit einer Niederschrift eines Prüforgans von Sozialversicherungsträgern zu vergleichen. Der Kontext gibt Sprachhandlungen verschiedene Sinnebenen, die den Beteiligten weder vor, während oder nach Abfassung eines schriftlichen Dokuments unmittelbar gegenwärtig sein müssen.

Niederschriften haben eine äußere Gestalt. Zu dieser zählen Angaben über den Ort, die Zeit und den Gegenstand der Amtshandlung, die Behörde sowie die amtshandelnden beziehungsweise mitwirkenden Person(en), alle sonstigen Beteiligten und gegebenenfalls ihrer Vertreterinnen und Vertreter. Auch Angaben über die Wiedergabe des Verlaufs und Inhalts des Vorganges und anschließende Beurkundung durch die amtshandelnden Person(en) fallen darunter. Niederschriften sind jedoch über diese statischen Elemente hinaus Funktionswandlerinnen. Einem Wort, einem Satz, einer Satzfolge oder einem Absatz kann in einem neuen Kontext eine gänzlich neue Bedeutung zukommen, die sich nicht unmittelbar mit der intendierten Bedeutung der Sprachbenutzerinnen und -benutzer decken muss.

Die Reise der Sprache durch das Recht kann Ungleichheit zwischen Beteiligten hervorbringen. Diese wird auch in anderen sozialen Kontexten diskutiert und kritisiert, etwa in Gerichtssälen, in Bildungseinrichtungen und Massenmedien. Doch bevor man sich den Herausforderungen widmen kann, die durch die Wanderung der Sprache mitbedingt werden, erscheint es sinnvoll, sich dem rechtssprachlichen Prozess des Niederschreibens zuzuwenden. Denn dieser ruft verschiedene Akteure und Akteurinnen auf den Plan, die sich in Alter, Ausbildung, besonderen Bedürfnissen, sozialem Geschlecht, Rechtskundigkeit, sozioökonomischem Status, Wertesystem, Weltwissen und ihren Erwartungen an das niederschriftliche Diskursgeschehen unterscheiden können. Defizite in deren Handlungsmächtigkeit können bei der Abfassung von Niederschriften beträchtliche Rechtsfolgen nach sich ziehen, denn rechtliches Partizipationsstreben und Kontextvertrautheit können nicht per se vorausgesetzt werden.

Frage-Antwort-Schema

Das für die niederschriftliche Praxis typische Frage-Antwort-Schema entspricht zudem oftmals einem Resümeeprotokoll, also einer Zusammenfassung durch die amtshandelnden Person(en), und nicht dem Wortlaut der zur Niederschrift einbestellten Person.

Die Belehrung, die Teil des niederschriftlichen Diskursgeschehens ist, soll die einbestellte Person in geeigneter Weise über den Kontext der Niederschrift und die an sie gestellten Anforderungen informieren (Wahrheitspflicht et cetera). Informieren, nicht beraten. Denn mit der Beratung beispielsweise durch einen Rechtsanwalt sind verfahrenstaktische Überlegungen verknüpft, die eine Belehrung nicht leisten kann und auch nicht soll.

Eine eingehende Information über die Amtshandlung ist jedoch wesentlich, denn in dem einmal Niedergeschriebenen darf nichts Erhebliches ausgelöscht, zugesetzt oder verändert werden. Durchgestrichene Stellen sollen lesbar bleiben. Erhebliche Zusätze oder Einwendungen der beigezogenen Personen wegen behaupteter Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit der Niederschrift sind in einen Nachtrag aufzunehmen und gesondert zu unterfertigen (§ 14 Abs. 4 AVG). Es gibt also Mängel in Niederschriften, aber keine mangelhaften Niederschriften, denn wenn keine Zusätze eingefordert oder Einwendungen geltend gemacht werden, so bleibt das geschriebene Wort als unangefochtene Realität stehen: Verba volant, scripta manent.

Die Frage von Deutschkenntnissen stellt sich hier aufs Neue, denn so wie vor den Strafverfolgungsbehörden finden sich Menschen vom Gemeindebau bis zur Manageretage bei Sozialversicherungsträgern ein, um Informationen über Arbeitsverhältnisse zu vermitteln. Auch Illettrismus, also Defizite in der Lese- und Schreibkompetenz, können zum Problem für den Rechtsstaat werden, denn ein Rechtsstaat zeichnet sich unter anderem durch Rechtssicherheit, Regelgerechtigkeit und Sprachgerechtigkeit aus. Die Frage, die sich im Kontext der niederschriftlichen Diskurspraxis stellt, ist, ob eine Anleitungs- oder Hinweispflicht gegenüber Menschen bestehen soll, die aufgrund mangelnder Sprachkompetenz oder bestehenden Illettrismus für sie nachteilige Formulierungen hinnehmen.

Regelgerechtigkeit geht davon aus, dass alle Rechtsunterworfenen normativ und faktisch denselben Regeln unterworfen werden. Feststellungen und rechtliche Würdigungen, die sich aus einer Niederschrift ergeben, können Wahrnehmungen der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit bei der einbestellten Person hervorrufen. Es geht nicht darum, ob jemand mit den Rechtsfolgen eines niederschriftlichen Diskursereignisses zufrieden ist, sondern darum, dass der Weg der Sprache innerhalb der beteiligten Organisation(en) dieselben Gütekriterien der Transparenz, Nachvollziehbarkeit, Zugänglichkeit und klarer, einfacher Sprache erfüllt.

Rechtliche Realität

Die Niederschrift als rechtliche Realität und sprachliches Diskursereignis hat sich bisher einer systematischen rechtslinguistischen Untersuchung entzogen. § 14 Abs. 7 AVG normiert: Diese oder Teile davon können unter Verwendung eines Schallträgers oder in Kurzschrift aufgenommen werden. In Fällen sprachlicher Unbestimmtheit oder Unterbestimmtheit, die auch unter gewissenhafter Miteinbeziehung des Kontexts nicht sinnvoll aufgelöst werden können, würden Audioaufnahmen Abhilfe schaffen. Der Kontext eines rechtlichen Dokuments reist niemals mit dem Text, sondern muss immer wieder neu verhandelt, konstruiert und etwa in gerichtlichen Auseinandersetzungen verbindlich fixiert werden.

Nicht wenige wünschen sich wohl, dass Sprache in rechtlichen Prozessen eine bestimmte, korrekte, richtige, eindeutige und vor allem verbindliche Form haben müsse. Es soll darum gehen, dass das Niedergeschriebene der Wahrheit entspricht, der Realität dessen, was in den Räumlichkeiten des Sozialversicherungsträgers tatsächlich besprochen worden ist. Doch Sprache ist kein Spiegel einer ewigen, unveränderlichen, in Stein gemeißelten Welt, sondern Sprache stellt - in den Worten Ekkehard Felders - Faktizität durch die Macht des Deklarativen her.

Bewährte Ratschläge

Wenn sich Juristinnen, Rechtslinguisten und Prüforgane mit den spannenden und wohl auch unbequemen Fragen von Versprachlichung, Dekontextualisierung und Rekontextualisierung in und nach niederschriftlichen Diskursereignissen auseinandersetzen, sollten wir auf bewährte Ratschläge der Textgestaltung zurückgreifen, etwa aus dem Fachgebiet der Wissenschaftskommunikation. Gerlinde Mautner gibt in "Wissenschaftliches Englisch" wertvolle Ratschläge, die nun abschließend - für die Erhebungspraxis ein wenig abgeändert - wiedergegeben werden sollen:

  • Als Prüforgan haben Sie die Verantwortung für das Verständnis der Niederschrift seitens der Leserinnen und Leser (Gerichte, Behörden, Kanzleien, uvm.)

  • Setzen Sie kein oder nur wenig Insiderwissen voraus, denn niemand kann Ihre Gedanken lesen.

  • Haben Sie Mitleid mit den Leserinnen der Niederschrift und versuchen Sie, den Aufwand zu verringern, den Leser brauchen, um dem Text folgen zu können.

  • Erfragen Sie die Bedeutung unklar erscheinender Begriffe während der Aufnahme der Niederschrift.

  • Wiederholen Sie Begriffe in derselben Form und weichen Sie nicht davon ab.

  • Trennen Sie deutlich zwischen Ihrer Stimme und der Stimme der niederschriftlich befragten Person.

  • Stellen Sie sicher, dass alle Sätze innerhalb eines Absatzes sinnhaft miteinander verbunden sind.

  • Stellen Sie sich die Niederschrift als Pfad vor, entlang dessen Sie die Leserinnen und Leser sicher durch nachvollziehbare Wegweiser geleiten wollen.

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