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Denkanstöße für eine queere Rechtslinguistik

Von Daniel Green und Martin Stegu

Recht
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie Homofeindlichkeit kann Spuren in richterlichen Entscheidungen hinterlassen.
© adobe.stock / Marharyta

Gerichte gehen in Fällen sogenannter "gleichgeschlechtlicher Unzucht" unterschiedlich an die Gesetzgebung heran.


"Daß die Homosexualität des Angeklagten eine auch durch ärztliche Behandlung nicht mehr zu ändernde Wesenskomponente sei, fällt nicht als mildernd ins Gewicht, weil gerade eine solche Wesensart eine erhöhte Rückfallsgefahr indiziert" urteilt der Oberste Gerichtshof (OGH) am 13. Oktober 1981 in Wien (9 Os 144/81). Mehr als fünfzig Jahre ist es nunmehr her, dass das Totalverbot für gleichgeschlechtliche Handlungen 1971 fiel, und doch war der Weg zur formalen Gleichstellung ein steiniger.

Das positive Recht, von Heinz Mayer, Gabriele Kucsko-Stadlmayer und Karl Stöger 2015 definiert als "jedes von Menschen für Menschen gesetzte, regelmäßig wirksame (effektive), organisierten Zwang androhende Regelungssystem", wurde in der Vergangenheit instrumentalisiert, um Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung zu stigmatisieren, zu diskriminieren und unter dem Vorwand der Spezial- und Generalprävention zu kriminalisieren.

Verantwortung der Einzelpersonen

Es gibt unterschiedliche Herangehensweisen an die Gesetzgebung und die Unrechtsprechung der Gerichte in Fällen sogenannter "gleichgeschlechtlicher Unzucht", je nachdem, welchen Aspekt man näher beleuchten will. Zum einen ist da die Annahme, dass homofeindliche Gesetze aufgrund der faktischen Machtstellung des Gesetzgebers galten und durch Androhung von Strafe und die Furcht vor Bestrafung eingehalten wurden. Auch die Frage der Anerkennung homophober Gesetzgebung seitens der Rechtsunterworfenen muss gestellt werden.

Welche Verantwortung haben Einzelpersonen ungeachtet ihrer beruflichen oder gesellschaftlichen Stellung, wenn "die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet [wird]", wie der deutsche Rechtswissenschafter Gustav Radbruch bereits 1946 schrieb? Stellen wir uns vor, es wird Unrecht gesprochen, und niemand hört hin?

Die in Wien stark vertretene und an Hans Kelsen orientierte rechtspositivistische Schule lehnt die Allgemeingültigkeit von Werten ab. Nicht Werte an sich wohlgemerkt, sehr wohl aber die Annahme, dass, was fair und was gerecht sei, per se erkennbar ist. Das Strafgesetz habe in diesem Sinne trotz aller empfundenen Ungerechtigkeit gegolten, da es in einem Normerzeugungsverfahren ordnungsgemäß erzeugt wurde und mit Zwangsgewalt durchgesetzt werden konnte. Dies wirft die Frage nach der grundlegenden Aufgabe des Rechts als friedensstiftende Kraft in der Gesellschaft auf, denn wer annimmt, dass jeder beliebige Inhalt zu Recht werden kann, dem "starrt das Gorgonenhaupt der Macht entgegen", so Kelsen 1927.

Es stellt sich folglich die Frage, ob sich die Beurteilung diskriminierender Gesetzgebung und Rechtsprechung nicht auch anhand allgemeiner Grundsätze der Ethik oder grundlegender Rechtsideen orientieren kann. Radbruch beschreibt 1946 die teils sehr schwierige Trennung zwischen "Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen". Er stellt aber zugleich klar, dass "wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur".

Dem ist ein Gedanken hinzuzufügen: Dort, wo der Staat die Gerichte zu willfährigen Erfüllungsgehilfen eines heteroandrozentrischen Totalitarismus umfunktioniert, wird Juristinnen und Juristen nicht nur ein Widerstandsrecht zugestanden, vielmehr ist es ihre Pflicht, Widerstand zu leisten. Widerstandsrecht und Widerstandspflicht sind entsprechend unkomfortable Themen für jene, die "nur ihren Job machen" wollen. Ein Blick auf die Lage der LGBTIQ+-community (lesbian, gay, bisexual, trans*, inter* und queer) in der Russischen Föderation zeigt, wie Juristen und Juristinnen zu Totengräbern und Totengräberinnen der Rechtsstaatlichkeit werden können, die das Recht, dem sie Geltung verschaffen sollen, feierlich zu Grabe tragen.

Zulassen kritischer Diskursanalysen

Was könnte aus der Sicht einer kritischen angewandten Rechtslinguistik also den Rechtsstaat von der Diktatur unterscheiden? Eine Antwort wäre möglicherweise die achtsame Verwendung der Rechtssprache und das Zulassen kritischer Diskursanalysen, die nicht nur Ruhmesblätter, sondern auch Unzulänglichkeiten der juristischen Sprachpraxis hervorbringen und problematisieren.

Die vergangene Rechtsprechung des OGH zeigt, dass gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie beispielsweise Homofeindlichkeit und Rassismus durchaus auch Spuren in richterlichen Entscheidungen hinterlassen kann. Homofeindliche Gesetzgebung und Rechtsprechung erfolgten nicht, um einer bestimmten Personengruppe aus irrationalen Gründen zu schaden beziehungsweise diese abzusondern. Vielmehr führte die herrschende religiöse Weltsicht ("Männlich und weiblich erschuf er sie", 1. Mose 1,27) als auch eine sich davon distanzierende "natürlich-biologische" Weltsicht (für den Fortbestand der Spezies bedürfe es eindeutig Mann und Frau) zur Schlussfolgerung, dass andere Möglichkeiten gar nicht existieren durften. Was nicht sein konnte, durfte folglich auch nicht sein.

Im Strafrecht der Vergangenheit wurde der Präventionsgedanke zur Diskriminierung von LGBTIQ+-Personen missbraucht und so der Gerechtigkeitsanspruch des Rechts ad absurdum geführt. Die Abschaffung expliziter homofeindlicher Strafbestimmungen hat jedoch nicht zu einer faktischen Gleichstellung geführt, sondern das Problem wohl nur verlagert.

Groß angelegte empirische Studien fehlen

Es fehlt gegenwärtig an groß angelegten empirischen rechtslinguistischen Studien zum Umgang mit LGBTIQ+-Personen in rechtlichen Kontexten. Ansätze aus der queeren Linguistik könnten wertvolle Impulse für eine Rechtslinguistik liefern, die sich nicht scheut, auch implizite Formen der Diskriminierung, Marginalisierung und Stigmatisierung anhand systematischer Sprachpraxis der Akteurinnen und Akteure des Rechts offenzulegen und zu explizieren. Dabei muss unterstrichen werden, dass queer nicht nur gay oder lesbian oder die Institution der "Ehe für alle" meint, sondern alle Spielarten des Menschseins und alle queeren Identitäten miteinschließen sollte. Der "Wert der Vagheit", definiert von Timothy Endicott 2008, und der Mehrdeutigkeit des Queerbegriffs liegt in seiner Flexibilität und der Entgrenzung festgefahrener Geschlechts- und Sexualitätskategorien.

Es gibt zwei Vorwürfe, die sich die österreichische Rechtsordnung gefallen lassen muss; einerseits die Tatsache, dass Strafbestimmungen zur sogenannten "gleichgeschlechtlichen Unzucht" überhaupt Teil der Rechtsordnung geworden sind. Andererseits die unleugbaren Kontinuitäten struktureller Diskriminierung von LGBTIQ+ Personen durch Gesetzgebung und Rechtsprechung seit der Zeit des Nationalsozialismus. Die Verbindung aus queerer Linguistik und kritischer angewandter Rechtslinguistik hat durchaus das Potenzial, mit Big-Data-Analysen anonymisierter Gerichts- und Behördenkommunikation, Einblicke in die rechtsprachliche Praxis zu gewähren, die im Alltag sonst möglicherweise unentdeckt geblieben wären.•

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