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Der EU-Haftbefehl vor Gericht

Von Dieter Weidmann

Recht
In Luxemburg ist zurzeit am Europäischen Gerichtshof unter anderem Spanien im Fokus.
© adobe stock / Florian Bauer

Vor dem Europäischen Gerichtshof läuft ein Prozess, der sich mit der Auslegung des EU-Haftbefehls im Allgemeinen und im Besonderen mit den spanischen EU-Haftbefehlen gegen katalanische Politiker befasst.


Zurzeit läuft ein Prozess vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg, der sich mit der Auslegung des EU-Haftbefehls im Allgemeinen und im Besonderen mit den spanischen EU-Haftbefehlen gegen katalanische Politiker im Exil in Belgien befasst. Vorausgegangen waren in den vergangenen Jahren drei spanische EU-Haftbefehle gegen dieselben Personen, welche die belgische Justiz allesamt ablehnte und deshalb nicht ausführte.

Nachdem die spanische Richterin Carmen Lamela am 3. November 2017 den ersten EU-Haftbefehl gegen den ehemaligen Präsidenten von Katalonien, Carles Puigdemont, ausgestellt hatte, nahm ihr Kollege, der Richter Pablo Llarena, diesen am 5. Dezember 2017 wieder zurück. Sein Argument war, dass die Anklagepunkte genauer ausgearbeitet werden müssten. Im Januar 2018 besuchte Puigdemont Dänemark, aber Llarena entschied, dass dies noch nicht der Moment sei, um einen neuen EU- Haftbefehl gegen ihn auszustellen.

Richter zog EU-Haftbefehle wieder zurück

Am 25. März 2018 wurde Puigdemont an der deutsch-dänischen Grenze in Deutschland aufgrund des spanischen EU-Haftbefehls festgenommen und nach zwölf Tagen unter Auflagen freigelassen. Nach viermonatigem Prozess lehnte das Oberste Gericht in Schleswig-Holstein das Auslieferungsgesuch Spaniens am 12. Juli 2018 ab, weil man weder Rebellion noch Aufruhr am 1. Oktober 2017 beim von Spanien nicht genehmigten Referendum in Katalonien feststellen konnte. Das deutsche Gericht hätte Puigdemont allerdings wegen angeblicher Veruntreuung öffentlicher Gelder an Spanien ausgeliefert, was der Ermittlungsrichter Llarena aber ablehnte.

Sieben Tage später, am 19. Juli 2018, zog der Richter Llarena die EU-Haftbefehle wieder zurück.

Erst nach der Verurteilung der katalanischen Regierungsmitglieder beim Prozess in Madrid ließ Llarena neue EU-Haftbefehle gegen die katalanischen Politiker im Exil ausstellen, und zwar am 14. Oktober 2019 und am 4. November 2019.

Angesprochen auf die Verurteilung katalanischer Politiker der Regierung, der Präsidentin des katalanischen Parlaments und zweier Präsidenten sozialer und kultureller Einrichtungen am 14. Oktober 2019 in Madrid wegen Aufruhr, erwiderte der ehemalige Richter am Obersten Gericht Spaniens José Antonio Marín Pallín Folgendes: Es sei gut möglich, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EuGMR) dieses Urteil für nichtig erklären könnte. Dabei ginge es nicht darum, ob es Aufruhr war oder nicht, sondern darum, dass die Richter des EuGMR nach Prüfung feststellen könnten, dass es sich nicht um einen gerechten und fairen Prozess handelte. Pallín glaubte nicht, dass die Verurteilten den für sie zuständigen Richter gehabt hätten (Barcelona anstelle von Madrid). Wenn sich der EuGMR darüber hinaus die Aufnahmen des Prozesses ansähe, würde er die Aggressivität des vorsitzenden Richters Manuel Marchena gegenüber den Zeugen der Verteidigung feststellen.

Widerspruch zuEU-Vertrag

Die spanische Staatsanwaltschaft und die EU-Kommission - merkwürdigerweise von einem Spanier vertreten - argumentierten bei der Anhörung beim EuGH in Luxemburg am 5. April 2022, dass der spanische EU-Haftbefehl nur dann von Belgien hätte abgelehnt werden können, wenn Spanien die Grundrechte einer größeren Gruppe im Lande systematisch verletzen würde und nicht Einzelpersonen.

Diese spanische Position hatte sich Mitte Juli 2022 der Generalstaatsanwalt Jean Richard de la Tour in seiner Stellungnahme zu eigen gemacht. Das ist offensichtlich ein Widerspruch zu dem EU-Vertrag, der die Grundrechte als individuelles Recht bezeichnet, die konsequenterweise auch eine individuelle Verteidigung vorsehen.

Letztere Interpretation wurde auch bei ebendieser Anhörung in Luxemburg von der italienischen Richterin Lucia Serena Rossi und von dem österreichischen Richter Andreas Kumin vorgetragen.

Unter der Leitung des dänischen Richters Lars Bay Larsen wird das endgültige Urteil Ende dieses Jahres gesprochen. Sollte sich bei den 15 Richtern die Meinung des Generalstaatsanwaltes durchsetzen, hört man von der Verteidigung der katalanischen Politiker im Exil in Belgien, dass man genug Material habe, um eine systematische Verletzung der Menschenrechte in Spanien dem EuGH vorzulegen, was dann wieder vor einem belgischen Gericht beurteilt würde.

"Systematische Verletzung der Grundrechte"

Die Verteidigung ist der Meinung, dass die inzwischen vorliegenden Abhöraufzeichnungen katalanischer Befürworter der Unabhängigkeit durch José Manuel Villarejo (Ex-Kommissar und Inbegriff der "Kloaken" des spanischen Staates im Gespräch mit Richtern, Staatsanwälten, Politikern und Journalisten) die Glaubwürdigkeit Spaniens als Rechtsstaat erschüttere. Damit würde die systematische Verletzung der Grundrechte in Spanien auf europäischer Ebene dokumentiert.

Bereits der Europarat mit Sitz in Straßburg entschied in seiner "Resolution 2381 (2021)-Doc. 15307", dass Spanien wegen der Verletzung der Menschenrechte zu rügen sei, weil die politischen und privaten Befürworter der Unabhängigkeit in Katalonien starker spanischer Repression ausgesetzt seien. Die Folge davon war, dass die spanische Regierung aufgefordert wurde, Begnadigungen gegen neun Angeklagte auszusprechen, was auch am 22. Juni 2021 geschah. Dagegen ging das rechte Parteispektrum vor, wurde aber vom Obersten Gericht abgewiesen. Mit dem Wechsel eines Richters im Obersten Gericht wurde nun das zweite Ansinnen derselben Gruppe angenommen.

In der Sitzung des "Ausschusses für juristische Angelegenheiten und Menschenrechte des Europarates" am 21. Juni 2022 wurde über den Bericht der Repression des spanischen Staates gegenüber den katalanischen Unabhängigkeitsbefürwortern von Boriss Cilevics neuerlich abgestimmt. Die spanischen rechtskonservativen Parteien und auch die sozialistische "PSOE"-Partei wollten die Freigabe des Berichts unbedingt verhindern, was ihnen trotz der Unterstützung der rechtsextremen Vertreter Polens, Ungarns, der Türkei und der Liga Nord aus Italien nicht gelang.

Weitere Personen vor spanische Gerichte zitiert

Der Bericht weist auf folgende Punkte hin:

Begnadigungen der katalanischen Politiker und zweier Präsidenten sozialer und kultureller Organisationen. Es bestehe die Gefahr, dass ein spanisches Gericht diese zurücknehmen könnte.

Die spanische Institution "Tribunal de Cuentas" (Rechnungshof) werde zu politischen Zwecken missbraucht, welche neben den Gefängnisurteilen extrem hohe Geldstrafen verhänge. Eigentlich sei der spanische Rechnungshof ein administratives Organ, welches aber wie ein Gericht Urteile fälle ohne Garantien für einen fairen Prozess.

Spanien ist immer noch nicht der Empfehlung des Europarates nachgekommen, das Gesetz über den "Aufruhr" (Sedición) von Grund auf zu ändern.

Der Europarat fordert die Reform des spanischen Strafrechts und kritisiert das von spanischen Gerichten ausgesprochene Berufsverbot für öffentliche Ämter parallel zu den Gefängnisstrafen. Zudem fragt er sich, welchen Sinn die spanischen EU-Haftbefehle für die katalanischen Politiker im Exil haben, wenn für ihre Kollegen in Spanien für die gleichen Anklagepunkte Begnadigungen ausgesprochen wurden. Er weist auch darauf hin, dass aufgrund der Demonstrationen nach dem Urteilsspruch gegen katalanische Politiker wegen des Referendums am 1. Oktober 2017 in Katalonien etwa 700 weitere Personen vor spanische Gerichte zitiert werden und rügt Spanien in Zusammenhang mit der umfassenden Abhörung ("Pegasus") katalanischer Politiker, von Journalisten und sogar Rechtsanwälten.

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Zum Autor~Dieter Weidmann war viele Jahre im kaufmännischen Bereich für eine deutsche Firma in Barcelona tätig und pendelt aktuell zwischen Spanien und Frankfurt am Main.