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Wenn man Urteile abspricht

Von Nikolaus Lehner

Recht
Angesichts der Realität des Faktischen und mangelnder Kontrollmöglichkeit lassen sich Urteilsabsprachen nicht völlig unterbinden.
© adobe.stock / Who is Danny

Dogmatische und pragmatische Analyse eines großen Problems im Justizverfahren.


Im Rahmen der Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht ist eine beeindruckende Dissertation von Laura Meller mit dem Titel "Urteilsabsprachen im österreichischen Strafprozess" erschienen. In diesem umfangreichen Werk setzt sich die Autorin mit der österreichischen Literatur zu diesem seit Jahren brennenden Problem auseinander und beleuchtet die Urteilsabsprachen in der Praxis. Zu Recht führt sie die Probleme der Überlastung der Justiz an, und ich ergänze, dass die jahrzehntelange vernachlässigte notwendige Budgetierung des Justizsektors die Hauptlast trägt, obwohl sich die Justiz durch die Einhebung von Gebühren und Strafen zu einem erheblichen Teil selbst finanziert.

Allerdings denke ich, dass ein gerüttelt Maß an Schuld die Justizpolitik lange trägt, weil die Bedeutung der Gesellschaftspolitik nicht entsprechend gewürdigt wird und der Justizminister bei der Zusammensetzung der Regierungsmitglieder als "Restmasse" von einer politischen Partei meist zuletzt besetzt wurde. Dadurch war auch die Auswahl dieser Minister nicht gerade eine solche, dass die Gewichtung wenigstens von der Persönlichkeit her angemessen gewesen wäre.

Besonders lesenswert ist der Abschnitt "Konfliktbereitschaft der Verteidigung in der Hauptverhandlung" mit einer beachtlich abwägenden kritischen Analyse inklusive psychologischer Kriterien wie die kognitive Dissonanz und den Schulterschlussaspekten.

Wettbewerbsverzerrung

Obwohl der Gesetzgeber mit den konsensorientierten Verfahrensweisen wie Mandatsverfahren, Diversion und die umkämpfte Kronzeugenregelung versucht hat, das vom Obersten Gerichtshof in zwei Judikaten für unzulässig erklärte Dealen einzuhegen, ist das bisher nicht gelungen. Selbstverständlich sind die Eigeninteressen der Verfahrensbeteiligten ein starker Impetus, wie semantisch die Wettbewerbsverzerrung ist: durch jene Anwälte, die mit Hilfe "kommunikativer Methode" mehr Mandate erreichen als andere (Kollegen) und jenen Justizorganen, die durch "zielorientiertes Dealen" mit den anderen Verfahrensbeteiligten als erfolgreicher gelten. Ich verwende bewusst kritisch diesen demaskierenden Begriff, der landläufig für den Drogenhandel besetzt ist.

Die Autorin vergleicht auch den Meinungsstand zu Absprachen in Rechtsprechung und Literatur und stützt sich dabei insbesondere auf Soyer, der sich auf diesem Gebiet schon sehr verdient gemacht hat, und auf Heidelinde Luef-Kölbl. Ich würde anregen, dass die zielführenden Gedanken dieser beiden Autoren zu einem Gesetzesentwurf implementiert werden. Auch eine empirische Befragung der Justizorgane, inwieweit sie in der Praxis ein Problem mit dem Anliegen der Rechtsanwaltschaft im Abspracheverfahren für problematisch finden.

Besonders spannend finde ich die fundierte Erörterung des Grundsatzes nemo - tenetur - Maxime und der materiellen Wahrheitsforschung. Die weiteren Exkurse über die deutsche Bundesgerichtshof-Rechtsprechung und inwieweit eine gesetzliche Regelung der Absprachen zu einer Lösung führen könnte, ist hinsichtlich einer Lösung eher deprimierend, weil in der Bundesrepublik Deutschland das entsprechende Gesetz zu keiner erheblichen Änderung des Absprachemodus geführt hat.

Ich stimme mit der Autorin bezüglich der These überein, dass sich Urteilsabsprachen angesichts der Realität des Faktischen und mangelnder Kontrollmöglichkeit nicht völlig unterbinden lassen. Eine "Kapitulation des Rechts vor der Macht des Faktischen" erscheint als Handlungsalternative des österreichischen Gesetzgebers gegenüber einer positiv rechtlichen Gestattung von Abspracheverfahren vorzugswürdiger.

Faktum Schuld

Ein Rest an schlechtem Gewissen beim Praktizieren einer Urteilsabsprache wird die Bereitschaft des Richters zum intensiven Einsatz einer Sanktionsschere verringern. Wird die Absprache vom Gesetzgeber stipuliert, wird die Justiz leichter eine Entschuldigung für die Bestrafung des nicht geständigen Angeklagten, der die übliche Abspracheroutine stört, finden.

Jedenfalls sollte das Faktum Schuld nie eine zu verhandelbare These sein, wenn auch bei einem Urteil über ein Kapitalverbrechen allfällige kleinere, nicht ins Gewicht fallende Delikte keine Rolle spielen dürften. Daher halte ich meinen Standpunkt insofern aufrecht, dass generell nie über die Schuld, sondern lediglich über die Strafzumessung Absprachen zulässig sein dürfen. Der Vorteil im Rahmen eines Justizverfahrens ist, dass sich der Richter in der Begründung der Urteilsausfertigung kürzer halten kann, wenn das Urteil in 1. Instanz eine Rechtskraft nach sich zieht.

Da wir von den USA in allen Bereichen viel Unsinniges übernehmen, halte ich abschließend fest, dass es bei uns in Europa nie zu einem plea bargain, wo der Advokat sich mit dem Prosecutor in der Form einigt, dass der Beschuldigte nur für die Bagatelldelikte verurteilt und vom Kapitalverbrechen freigesprochen wird, kommen darf.

Die Analyse der Autorin zu diesem großen Problem im Justizverfahren hat sie dogmatisch und pragmatisch eindrucksvoll dargestellt. Es ist ein Vergnügen, ihr in ihren Gedanken zu folgen. Auch die Zusammenfassung ist verdienstlich. Daher ist diese Abhandlung sowohl für Praktiker als auch Theoretiker sehr empfehlenswert.