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Neue Herausforderungen für Fairness

Von Nikolaus Lehner

Recht

Einem Seismographen gleich spürt Richard Soyer Gelingendem wie Problematischem im Unternehmensstrafrecht nach.


Richard Soyer ist der Herausgeber des Handbuchs Unternehmensstrafrecht, und ich habe mich entschlossen, gemeinsam mit diesem Werk ein weiteres Buch von Soyer, "Verfahrensgerechtigkeit für Unternehmen", zu besprechen. Bei Letzterem zeichnet er gemeinsam mit Stefan Schumann ebenfalls für die Herausgeberschaft. Dieses Werk dokumentiert eine Tagung in Linz im November 2021, bei der die zentralen Fragen der Wirtschafts- und Wettbewerbsproblematik der Gegenwart behandelt wurden. Aus der Fülle des Gebotenen greife ich vorerst den Themenblock "Verfolgungspluralität und Sanktionierung von Verbänden" heraus.

Gerhard Dannecker von der Universität Heidelberg setzt sich damit auseinander, dass infolge der Globalisierung und der damit einhergehenden Verflechtungen neue Möglichkeiten grenzüberschreitender Deliktsbegehung eröffnet werden. Dadurch steht das Strafrecht, und hier naturgemäß primär das Unternehmensstraf-recht, vor der großen Herausforderung, immer komplexer werdende Vorgänge erfassen zu müssen. Der Lösungsansatz dazu fordert verstärkt ergänzende und alternative Kontrollinstrumente ein, wie Compliance-Programme in Unternehmen (und notabene ebenso auch im öffentlichen Bereich), sowie eine "Verstärkung" des zivilrechtlichen Schadenersatzes. Damit ist ja immer eine Ausweitung von Anspruchsgrundlagen und Umfang des Ersatzes gemeint.

Rationalisierung der Sanktionszumessung

Sehr kompetent und dazu in die Tiefe gehend Dominik Brodowski, Universität Saarbrücken, welcher die schon gemeinrechtlich fundierten Begrenzungen durch "ne bis in idem" und einer dazu notwendigen Koordinierung grenzüberschreitender Sachverhalte und Prozesse behandelt.

Ein weiterer dokumentierter Vortrag von Michael Kubiciel, Universität Augsburg, befasst sich sehr instruktiv mit der Rationalisierung der Sanktionszumessung im Unternehmensstrafrecht. Dieser Aspekt ist besonders gewinnend, weil die damit einhergehende Vergleichbarkeit zweifellos zu einer Stärkung des Unternehmensstrafrechts führen würde. Aus politischen Gründen und dem Widerstand breiter Kreise scheiterte in Deutschland 2021 die Implementierung eines politisch akkordierten und finalisierten Entwurfs eines Verbandssanktionsgesetzes, in seinem Kern eine nicht unbedeutende Weiterentwicklung des geltenden Rechts in Richtung Stärkung der Compliance und Verschärfung der Sanktionen. Es wäre vielleicht keine Revolution gewesen, wurde aber jedenfalls abgesagt.

Im zweiten Themenblock "Forensik und Grenzüberschreitung" werden auch die interdisziplinären und transnationalen Grenzen überwunden, gezeigt an Themen wie Datenschutz und internationale Rechtshilfe.

Sebastian Neufang, Rechtsanwalt in Zürich, behandelt Künstliche Intelligenz (KI) - gestützte forensische Untersuchungsmethoden wie Videoidentifizierung und Cryptoassets, die sich rasant weiterentwickeln. Dafür werden immer leistungsfähigere Quantenprozessoren entwickelt, was ein großes Potenzial für computerforensische Untersuchungsanwendungen bedeutet. Neufang stellt fest, dass Täter, die keine digitalen Spuren hinterlassen, auch nicht digital aufgespürt werden können. Analysen ohne menschliche Intelligenz sind nicht denkbar, darauf basieren immer noch die Algorithmen, die damit entscheidende Hilfsmittel der Computerforensik sind und menschliche kriminologische Intelligenz jedenfalls noch nicht ersetzen können.

Stefan Koch, Universität Linz, beschäftigt sich mit den Einsatzmöglichkeiten und Herausforderungen der KI in der Forensik. Er zeigt, dass KI geplant und sinnvoll eingesetzt, parametrisiert und in jedem Fall überwacht werden muss.

Die Themen dieser Tagung und damit der vorliegende Band wurden im Rahmen der Schriftenreihe "Unternehmensstrafrechtliche Tage" veröffentlicht und setzen dort an, wo es "grenzüberschreitend" wird. Da die Verfolgung von Unternehmensrechtsverstößen oft nicht sektoral begrenzt ist, laufen Verfahren verschiedener Strafverfolgungsbehörden zeitlich parallel und beeinflussen einander wechselseitig nachhaltigst. Die transnationale Ermittlungsarbeit und die darauf basierende Strafverfolgung harren trotz nicht von der Hand zu weisender Fortschritt einer adäquaten und damit kostenintensiven Umsetzung.

Compliance aus nationaler und internationaler Sicht

Durch den Umstand, dass Daten Fingerabdrücke des digitalen Zeitalters darstellen, sind neue Disziplinen entstanden. Gleichermaßen lässt die Globalisierung transnationale wirtschaftliche Verflechtungen entstehen, die auch die altehrwürdige Institution des Rechtshilferechts in den Fokus dieser Tagung rückte. Auch der Aspekt der Verfahrensgerechtigkeit für Unternehmen verdient es meiner Meinung nach, einer der großen Zukunftsthemen des Unternehmensstrafrechts (USR) zu werden.

Die Regeln über Compliance widmen sich nationalen wie internationalen Strukturen, die die Einhaltung von Vorschriften auf unterschiedlichen Ebenen garantieren. Die Idee stammt ursprünglich aus den USA, wo noch im Jahre 1977 amerikanischen Unternehmen verboten werden musste, Bestechungsgelder an Amtsträger anderer Staaten zu bezahlen. Das Netz an Compliance-Vorschriften wird auch bei uns immer dichter, in den Unternehmen wie verstärkt auch im öffentlichen Dienst. Zentral zuletzt die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), welche seit 2018 gilt, oder die Whistleblower-Richtlinie, die Unternehmen dazu verpflichtet, Meldekanäle einzurichten, damit die Mitarbeiter wie Betroffene Rechtsverstöße vertraulich melden können.

Das EU-Lieferkettengesetz, geltend ab 1. Jänner 2023, soll Unternehmen dazu verpflichten, ihre Lieferanten intensiver zu kontrollieren und damit die Einhaltung menschenrechtlicher Standards entlang komplexer Produktions- und Transportwege zu garantieren.

Größere Organisationen wie etwa ein Krankenanstaltsverband müssen ein effektives Compliance-System einrichten. Entscheidend ist vor allem die Haftungsfrage: Wenn das Gericht feststellt, dass ein bestimmter Schaden nicht eingetreten wäre, sofern es ein stringentes Compliance-Management gegeben hätte, wird die Haftung des Unternehmens schlagend. Allerdings kann sich vice versa ein Unternehmen von seiner Verantwortung befreien, wenn es nachweist, die Vorschriften erlassen und deren Einhaltung kontrolliert zu haben. Wenn daher ein Unternehmen gegen Umweltauflagen verstößt, jedoch aber beweisen kann, alles denkmögliche unternommen zu haben, um derartige Verstöße zu vermeiden, müssen die Behörden von einer Strafe absehen.

In letzter Zeit ist zu beobachten, dass sich in europäischen Staaten abgewählte Politiker besonders intensiv am Geschäftsfeld der Überwachungssoftware beteiligen. Sei es, um kritische Infrastrukturen zu schützen, sei es aber auch, um weiterhin einer bestimmten politischen Agenda mehr oder weniger offen zum Durchbruch zu verhelfen.

Gesamtüberblick und spezifische Themenauswahl

Als Einstieg für das von mir oben besprochene Werk dient das Handbuch von Richard Soyer zum Unternehmensstrafrecht, welches von insgesamt 31 Autoren behandelt wird, unter anderen Otto Dietrich, Philipp Marsch, Sergio Pollak, Alexia Stuefer, Bernhard Weratschnig sowie Ingeborg Zerbes.

Die 770 Seiten dieses Werkes befassen sich mit der gesamten Problematik des USR sowohl materiell als auch formell, insbesondere mit dem Verfolgungsermessen und der Diversion gemäß §§ 18, 19 Verbandsverantwortlichkeitsgesetz (VbVG), weiters mit dem Haupt- und Rechtsmittelverfahren gegen belangte Verbände, den unterschiedlichen Compliance-Strategien bis zur Verbandsverantwortlichkeit im Finanzstrafrecht, Geldwäscherei und den Rechtslagen in den uns umgebenden Staaten.

Soyers Verdienste als Herausgeber bestehen einerseits in der Vermittlung eines Gesamtüberblicks über die Materie und andererseits in der spezifischen Themenauswahl, die auf Mängel und Schwachstellen des USR aufmerksam macht und - gelegentlich - auch Lösungen anbietet. Hervorzuheben ist die richtige Gewichtung von Dogmatik und Kriminalpolitik, immer unter Einbeziehung von Unternehmens- und Steuerrecht. Das spiegelt sich in der gelungenen Auswahl der Mitarbeiter und Beiträge in den Sammelbänden. Mögen diese zu einer zielgerichteten, ausgewogenen Legistik und gesetzestreuen verstärkten Anwendung dieser Rechtsmaterie führen.

Jedenfalls gelingt es Soyer, die aktuellen Entwicklungen in dieser weiten und abseits informierter und interessierter Kreise oft im Verborgenen bleibenden Thematik nachzuzeichnen. Einem Seismographen gleich spürt er Gelingendem wie Problematischem nach und kommt in beiden Werken zu kohärenten Resultaten.