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Grundrechtsschutz in Europa am Scheideweg

Von Peter Hilpold

Recht
Von breiten Bevölkerungskreisen unmittelbar spürbar ist die Verschlechterung der Lebenssituation vieler Menschen in Mittel- und Westeuropa.
© adobe.stock / freshidea

Angesichts fundamentaler Bedrohungen ist es essenziell, die Errungenschaften im Menschenrechtsschutz hochzuhalten.


Gerade in Europa werden Menschenrechte gegenwärtig wie seit langem nicht mehr in Frage gestellt. In diesem Zusammenhang ist in erster Linie an den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu denken. Nicht nur wird dadurch das wohl fundamentalste Menschenrecht, das Recht auf Leben, zentral bedroht und schwerstens verletzt, sondern tagtäglich dringen neue Informationen über gravierende Verstöße gegen das Kriegs- und Humanitätsrecht und damit verbunden von Menschenrechten in den Kriegsgebieten an die Öffentlichkeit.

Vergleichsweise von weit geringerer Dimension, von breiten Bevölkerungskreisen aber unmittelbar spürbar, ist die Verschlechterung der Lebenssituation vieler Menschen in Mittel- und Westeuropa. Die Regierungen versuchen, wirtschaftlichen Notlagen - und damit der Gefährdung sozialer Grundrechte - mit Hilfspaketen entgegenzuwirken, doch zeigen sich immer deutlicher die Grenzen solcher Maßnahmen.

Gerade angesichts solcher fundamentaler Bedrohungen ist es essenziell, die europäischen Errungenschaften im Menschenrechtsschutz hochzuhalten und zu verteidigen. Dazu zählt zweifelsohne gerade die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), deren Wesen aber weitgehend nur Fachleuten bekannt ist.

Bekanntlich ist in Österreich letzthin eine Diskussion entbrannt, ob die EMRK eine Abänderung erfahren sollten, und zwar zur "besseren" Bewältigung der Flüchtlingskrise. Dieser Vorschlag - und auch die Reaktion darauf - hat viele Frage aufgeworfen, ist doch die Flüchtlings- und Zuwanderungsproblematik eine Herausforderung, die eine vielschichtige Herangehensweise verlangt und nicht allein - und schon gar nicht primär - über die EMRK gelöst werden kann.

Seit 1950 kontinuierlich fortentwickelt

Andererseits sind die entrüsteten Antworten auf diese Forderung, mit dem Grundtenor, die EMRK dürfe niemals abgeändert werden, in juristischer und praktischer Hinsicht verwunderlich, ist dieses Dokument seit 1950 kontinuierlich fortentwickelt worden. Dabei sollte aber stets die Festigung des Grundrechtsschutzes in Europa im Augenmerk liegen.

Wer sich über die EMRK informieren möchte - und politische Entscheidungsträger wären angehalten, diese zu tun -, der wird im "Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention" von Professor Mark E. Villiger eine wertvolle Hilfestellung finden. Wer wäre besser prädestiniert gewesen, ein solches Werk zu verfassen als Villiger? Der Autor ist Professor an der Universität Zürich und der Fachwelt bekannt als Autor grundlegender völkerrechtlicher, europarechtlicher und öffentlichrechtlicher Schriften. Wer beispielsweise Näheres zur Wiener Vertragsrechtskonvention wissen möchte, ist bei Villigers englischsprachigem Kommentar, der 2009 bei Brill erschienen ist, bestens aufgehoben.

Das "Handbuch der EMRK" stellt ein zweites Meisterwerk von Prof. Villiger dar, das die in der Fachliteratur seltene Eigenschaft aufweist, profunde Fachauskunft zu vermitteln und gleichzeitig dennoch leicht lesbar zu sein, so dass es nicht allein JuristInnen vorbehalten bleiben muss.

In diesem Handbuch zeigt sich auch Prof. Villigers besondere praktische Erfahrung in diesem Bereich, war er doch Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Er ist auf diese Position von Liechtenstein entsandt worden, womit das Fürstentum einen maßgeblichen Beitrag für die qualifizierte Verteidigung, die Konsolidierung und die Fortentwicklung der Menschenrechte geleistet hat.

Wertvolle Hilfestellung

Jeder, der sich mit den Grundlagen des Menschenrechtsschutzes in Europa vertraut machen möchte und gleichzeitig Gelegenheit haben möchte, auch komplexe Frage in diesem Bereich mit großem Sachverstand beantwortet zu erhalten, wird durch dieses Handbuch eine wertvolle Hilfestellung erfahren. Kann man bei juristischen Werken von einer "Pflichtlektüre" (auch außerhalb der Fachwelt) sprechen? Bei Professor Villigers Handbuch wäre man geneigt, diese Frage - gerade auch angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen und der Qualität der vorliegenden Schrift - uneingeschränkt zu bejahen.