Zum Hauptinhalt springen

Das Spannungsverhältnis beim Entschlagungsrecht

Von Nikolaus Lehner

Gastkommentare
Nikolaus Lehner war vormals 45 Jahre lang als Rechtsanwalt tätig und ist seither Kurator und Kommentator.
© Gregor Schweinester

Die Regelung des Aussagenotstandes bedarf dringend einer Reform.


Im Strafprozess im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens sollen zur Gewährleistung oder Wiederherstellung des Rechtsfriedens Normverstöße nach geltenden Regeln aufgeklärt und im Falle eines Schuldnachweises sanktioniert werden. Den fundamentalen Grundsatz bildet dabei die materielle Wahrheitsfindung unter Achtung der Rechte der Verdächtigen und der Opfer. Das angestrebte Ziel ist ein Kompromiss zwischen einer effizienten Justiz und dem Schutz des Grund- und Menschenrechtskatalogs.

Zu den grundlegenden Tatbildern traten immer komplexere Strafnormen, zu denen sich teils divergierende Auslegungsmethoden und oft neben dem Gesetz eine immer mehr Raum einnehmende Judikatur entwickelte. Dies führt zu einer größeren Einzelfallgerechtigkeit, bringt aber auch widersprechende Entscheidungen mit sich.

Ich sehe bei der Regelung des Aussagenotstandes einen dringenden Reformbedarf, weil ich der Ansicht bin, dass dessen Allgemeingültigkeit das bisher bestehende Gleichgewicht unterminiert. Da Aussagen ein tragendes Element jeder Urteilsfindung sind, ist die Androhung und Sanktionierung von falschen Angaben außerordentlich wichtig. In letzter Zeit erkenne ich eine Schräglage und deshalb möchte ich eine Diskussion über den "Menschen nach Maß" anregen, die der Schaffung eines der Gerechtigkeit dienenden Anhaltspunktes für einen maßgerechten Durchschnittsmenschen eröffnen.

Der Aussagenotstand ist ein Entschuldigungsgrund für Zeugen, die eine falsche Beweisaussage nach § 288 StGB begangen haben. Im Gegensatz zur Regelung des allgemeinen Notstandes nach § 10 StGB schafft im Falle des Aussagenotstandes die gesetzliche Wahrheitsverpflichtung die Konfliktsituation, was untypisch für die Entstehung einer Notsituation ist. Als Sonderfall des entschuldigenden Notstands ist der Aussagenotstand von Amts wegen wahrzunehmen. Plöchl/Seidl (in Höpfel/Ratz WK § 290 RZ 20) zufolge hat der Zeuge, wenn er die Konfliktsituation schuldhaft herbeiführt, kein Recht auf die Inanspruchnahme des Aussagenotstands, Bertel/Schwaighofer (Strafrecht BT II § 290 RZ 24) sind entgegengesetzter Ansicht.

Unbefriedigende Ergebnisse

Als Motiv für die Nichtinanspruchnahme des Aussageverweigerungsrecht kommt jeder Umstand in Betracht, durch den dem Täter, schon allein durch die Nennung der Gründe für die Beanspruchung des Entschlagungsrechtes, die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung oder eines vermögensrechtlichen Nachteils droht. Vor allem bei getrennten Verfahren kommt es hier zu unbefriedigenden Ergebnissen. Ein Täter kann sich nicht auf § 290 StGB berufen, auch wenn er diese falsche Aussage nur deshalb tätigte, um seinen Verdacht nicht zu vertiefen. Der OGH (12. Dezember 2017, 14 Os 94/17f) sprach dazu aus, dass in jenen Fällen, in denen ein Zeuge von der Behörde auf sein Recht, die Aussage zu verweigern, hingewiesen wird, dieses aber nicht in Anspruch nimmt aus Sorge, dass dadurch ein Tatverdacht auf ihn gelenkt wird, nicht nach § 290 StGB entschuldigt ist. Der OGH (4. März 1986, 10 Os 155/85) hat auch einem Angeklagten den § 290 Absatz 1 StGB nicht zugestanden, weil dieser als Laie davon ausgehen musste, dass ihn schon die Verweigerung der Aussage im Strafverfahren belasten würde.

Das ist das Spannungsverhältnis zwischen den Rechten des Beschuldigten und der rechtmäßigen Begründung eines Entschlagungsrechtes. Solange es keine gesetzliche Normierung für ein Entschlagungsrecht gibt, kommt ein Aussagenotstand nicht in Betracht. Wurde ein Zeuge aber zu Recht zu einer Aussage verhalten, weil die von ihm offen gelegten Gründe für ein Entschlagungsrecht berechtigterweise als ungeeignet beurteilt wurden, dann haftet er für seine falsche Aussage.

Von einem mit den rechtlich geschützten Werten verbundenem Menschen wird verlangt werden können, dass er sich vor allem dann nicht durch eine strafbare Handlung einer Gefahr entzieht, wenn er zum Handeln verpflichtet ist, wie etwa der Polizist, der Feuerwehrmann, der Bergführer, der Rechtsanwalt und der Politiker.

Der Notstandslage darf sich ein Täter nur dann bewusst aussetzen, wenn es sich um Gefahren handelt, deren Übernahme von der Rechtsordnung anerkannt ist.

Maßstabfiguren bei Fahrlässigkeitsdelikten

Im Strafrecht werden Maßstabfiguren bei Fahrlässigkeitsdelikten eingesetzt, um das Vorliegen eines objektiv tatbeständigen Verhaltens festzusetzen. Im Bereich der persönlichen Vorwerfbarkeit - bei Prüfung des Vorliegens einer subjektiven Sorgfaltswidrigkeit - ist ihre Verwendung ausgeschlossen, weil hier auf die konkrete Täterpersönlichkeit und nicht auf eine Maßstabfigur abzustellen ist.

Die von mir erkannte Schräglage im Bereich der Falschaussage und ihrer möglichen Entschuldbarkeit ist vor folgendem Hintergrund zu sehen: Ein wesentlicher Bestandteil für eine Normakzeptanz und damit für das Vertrauen in die Rechtsordnung sind Urteile, die auf das Ergebnis der Ermittlungen und des Beweisverfahrens aufbauen können. Dabei ist essenziell, dass Aussagen vollständig und wahrheitsgemäß sind und eine Grenze zur entschuldbaren Falschaussage (nur) in Richtung des Verbots der Selbstbezichtigung zu ziehen ist.

Die den Gerichten obliegende Erforschung der materiellen Wahrheit wird aber durch - behauptete - Erinnerungslücken und den Versuch, sich nicht festzulegen, immer mehr unterlaufen. Im Kampf gegen politische Korruption ist das nur schwer hinzunehmen. Für den Bereich der Falschaussage hat der Gesetzgeber mit der Regelung des § 290 Absatz 3 StGB das absolute Verbot der Selbstbezichtigung daher zu Recht aufgegeben und unter eine Zumutbarkeitsklausel gestellt. Diese greift etwa dann, wenn mit einer wahrheitsgemäßen Aussage eine wahrheitswidrige Verurteilung eines anderen wegen eines schweren Delikts zu verhindern, aber eine eigene Verurteilung wegen eines minderschweren Delikts hinzunehmen wäre.

In Konstellationen, in denen Politiker oder Spitzenbeamte falsch aussagen, um sich vor einer Verurteilung wegen eines Korruptionsdelikts zu schützen, wäre der Aussagenotstand de lege ferenda aufzugeben. Maßstabfigur müsste dann etwa ein mit den rechtlich geschützten Werten verbundener Politiker sein, der sich durch sein politisches Handeln gar nicht in die Gefahr des Aussagenotstands bringt. Handelt er nicht danach, ist die Diskussion legitim, ob er dann eben eine Verurteilung auf sich nehmen muss.

Begründet werden kann dies damit, dass eine solche individualisiertere Maßstabfigur zur Konkretisierung des gesollten Verhaltens eingesetzt und damit eine Objektivierung der Rechtmäßigkeitskontrolle bezweckt wird. Bei Wertungsfragen in solchen Einzelfallentscheidungen fungiert die angepasste Maßstabfigur als Einfallsklausel für Werthaltungen innerhalb der Gesellschaft. Dem ist zu Grunde zu legen, dass sich die gebotene Sorgfalt aus Tatsachen zusammensetzt, die sich aus dem Bewusstsein der beteiligten Rechtskreise ergeben. Nur so können notwendige schärfere gesellschaftliche Wertungen im Kampf gegen Korruption auf die Rechtsebene transportiert werden. Dies erhöht auch gerichtliche Entscheidungen und ihre Akzeptanz.

"Realität und Vision der Strafverteidigung" lautet der
Titel des aktuellen Österreichischen StrafverteidigerInnentags. Die Vereinigung Österreichischer

StrafverteidigerInnen feiert ihr 20-jähriges Jubiläum diesen Freitag und Samstag im Wiener Justizpalast (1., Schmerlingplatz 11). Mehr Info: www.strafverteidigung.at