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Wenn der Rechtsstaat zum Unrechtsstaat wird

Von Nikolaus Lehner

Gastkommentare
Nikolaus Lehner war vormals 45 Jahre lang als Rechtsanwalt tätig und ist seither Kurator und Kommentator.
© Gregor Schweinester

Was die Aufarbeitung der Rolle der Justiz unter dem NS-Regime betrifft, könnte sich Österreich ein Beispiel an Deutschland nehmen.


Unbestritten ist, dass die Justiz eine tragende Säule des Rechtsstaates darstellt. In den zwölf Jahren des NS-Regimes erfasste das von den politischen Machthabern begangene Unrecht sukzessive auch die Justiz, wobei es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Deutschland und Österreich gab. Viele elementare Rechtsgrundsätze, wie sie auch heute selbstverständlich sind, wurden vollkommen außer Acht gelassen. Das Dritte Reich entstand auf den Fundamenten eines bürgerlichen Rechtsstaates, die Weimarer Verfassung galt weiterhin, und die Anwendung der Gesetze kontrollierten unabhängige Gerichte. Das Erstaunliche war, dass die Richter und Staatsanwälte, die vor dem Umbruch in der NS-Zeit tätig waren, nach 1945 dieselben waren.

Im Nürnberger Juristenprozess wurde dramaturgisch plädiert, dass der Dolch des Mörders unter der Robe der Juristen verborgen war. Diese Auseinandersetzung betrifft das erschreckende Phänomen, dass die Justiz auch weiter agieren kann, wenn sich der Rechtsstaat in einen Unrechtsstaat verwandelt. Die Justiz hat damals den NS-Staat gestützt und einen erheblichen Beitrag zum Unrecht geleistet.

Jede Rechtsentwicklung lebt davon, sich mit der bisherigen Rechtsprechung kritisch und - ich denke, das ist besonders schwierig - in einer gewissen Distanz auseinanderzusetzen. Dazu kommt, dass die meisten der dafür verantwortlichen Richter und Staatsanwälte in Deutschland und Österreich nicht unbedingt überzeugte Nationalsozialisten waren, sondern eher politisch farblose, schlicht ehrgeizige Beamte, für die vor allem die Karriere wichtig war.

Auseinandersetzung ist noch nicht abgeschlossen

Dass die Auseinandersetzung in Österreich noch nicht abgeschlossen ist, zeigt sich auch daran, dass bisher keine systematische wissenschaftliche Aufarbeitung der Karrieren von österreichischen Richtern und Staatsanwälten vor, während und nach dem Ende des Nationalsozialismus vorliegt. Es gibt zwar eine Reihe von wertvollen Arbeiten in dieser Richtung, wie zum Beispiel der ehemalige Präsident des Oberlandesgerichts Innsbruck, Klaus Schröder, in vorbildlicher Weise erschöpfend die Tiroler und Vorarlberger Justiz unter dem Hakenkreuz aufarbeiten ließ, jedoch sind die weiteren Beiträge zu diesem Thema weit verstreut und nicht wie in Deutschland im Werk "Die Akte Rosenburg" von Manfred Görtemaker und Christoph Safferling aus dem Jahr 2016 konzentriert analysiert.

Im Unterschied dazu hat sich in Deutschland eine eigene Kommission mit der Frage beschäftigt, wie man im dortigen Justizministerium nach 1949 mit der NS-Vergangenheit umgegangen ist, also welche personellen und institutionellen Kontinuitäten existierten. Für diese Prüfung, die aus historischer und aus juristischer Sicht erfolgte, waren alle Akte des Ministeriums zugänglich. Erforscht wurde, wie groß der Personenkreis war, der in der NS-Zeit bereits aktiv war und nach 1949 in den Dienst des Justizministeriums übernommen wurde.

Untersucht wurde die Rolle des Ministeriums bei der Amnestierung von NS-Tätern und bei deren vorzeitiger Haftentlassung. Weiters wurde die Haltung des Ministeriums zur Zentralen Rechtsschutzstelle erforscht, weil diese sich bis zu ihrer Auflösung 1968 auch als Instrument zur Warnung deutscher Kriegsverbrecher betätigt hat. Ferner wurde das Problem erörtert, inwieweit die Justizpolitik überhaupt generell zu einer lückenlosen Aufarbeitung im justiziellen Bereich in der NS-Zeit bereit war.

Versagen der österreichischen Justiz

Dasselbe müsste in Österreich schon lange durchgeführt werden. Ich erinnere mich, als Verteidiger von Primarius Heinrich Gross ab 2000, dass die damalige österreichische Justiz unter politischem Einfluss leider versagt hat. Es wäre eines Rechtsstaates würdig und notwendig gewesen, schon in den 1950er Jahren im Fall Gross und im Interesse aller Beteiligten rechtzeitig die Beweise aufzunehmen, beispielsweise zu Lebzeiten von Zeugen. Im Jahr 1950 wurde Gross lediglich wegen eines Falles wegen Beteiligung am Totschlag eines Kindes zu zwei Jahren Haft verurteilt, und das Urteil wurde in der Folge vom OGH wegen "innerer Widersprüche in der Urteilsbegründung" aufgehoben.

Bevor es zur Fortsetzung in erster Instanz gekommen wäre, wurde das Verfahren von der Staatsanwaltschaft Wien auf Weisung des Justizministeriums eingestellt. Es dauerte Jahrzehnte, bis die Ermittlungen in mehr als 600 Fällen neu aufgerollt wurden und endlich eine Anklage gegen Gross bei Gericht eingereicht wurde. In der Folge wurde die Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten von drei Gerichtsgutachtern festgestellt.

Im Werk "Die Akte Rosenburg" wurde das Ergebnis eines Befundes der Datenkartei von mehr als 34.000 Personen, die zwischen 1933 und 1964 im höheren Justizdienst tätig gewesen waren, publiziert. Eine Reihe deutscher Juristen, auch wenn sie politisch belastet waren, konnten ihre Laufbahn nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland (fast) nahtlos fortsetzen. Ein einziger Richter wurde in Deutschland rechtskräftig wegen Beihilfe zum Mord zwar zu sechs Jahren verurteilt, allerdings verbüßte er davon nur drei Jahre. Die Urteilsbegründung lautete, dass der Ausgangspunkt bei der Feststellung der strafrechtlichen Schuld "das Recht des Staates auf Selbstbehauptung" darstelle.

Einem anderen angeklagten SS-Richter wurde vom Bundesgerichtshof seriöses juristisches Handeln im Rahmen einer als gerecht erachteten Justiz attestiert, während die Akteure des Widerstands (Wilhelm Canaris, Dietrich Bonhoeffer, Hans von Dohnanyi) zu Verbrechern erklärt wurden.

"Unrichtiges Recht hat der Gerechtigkeit zu weichen"

1946 entwickelte der ehemalige Reichsjustizminister und Rechtsphilosoph Gustav Radbruch, der nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 als erster deutscher Professor aus dem Staatsdienst entlassen worden war, seine inzwischen berühmte Formel, wonach im Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit eine Situation eintreten könne, in der "der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat".

In den Nürnberger Prozessen 1945 wurde festgestellt, dass legistisches Unrecht nicht nur keine Anwendung finden darf, sondern sogar strafbewährt sein kann. Ab 1949 wurde dieser Gedanke immer mehr verdrängt, und in den Nürnberger Juristenprozessen, in denen neun Angeklagte eine leitende Funktion im Reichsjustizministerium innegehabt hatten, begründete das Gericht in seinem Urteil, sie hätten sich bewusst an einem von der Regierung organisiertem System der Ungerechtigkeit beteiligt und im Namen des Rechts nicht nur Kriegsgesetze, sondern auch Gesetze der Menschlichkeit verletzt.

Im Bundesministerium für Justiz der BRD wiesen in den 1950er und 1960er Jahren die meisten Abteilungsleiter und Referatsleiter eine einschlägige NS-Vergangenheit auf, zum Beispiel der Erste Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck vor 1945 und in der Folge von 1951 bis 1969 im Justizministerium, zuletzt als Ministerialdirigent tätig.

Grundlage für die Weiterbeschäftigung ehemaliger höchstrangiger nationalsozialistischer Juristen im öffentlichen Dienst war der Artikel 131 im Grundgesetz. Entscheidendes Motiv war der damalige politische Wille, ein Funktionieren des neuen Staates und eine Integrationswirkung für die innere Stabilität der Bundesrepublik zu gewährleisten. Auch mit der Amnestie und Verjährung wurde großzügig agiert. Diese großzügige Wiedereingliederung belasteter Juristen in die deutsche Justiz führte zu einer Verhinderung der Aufarbeitung des justiziellen NS-Terrors ("Krähenjustiz").

Keine Befehlsautomaten und willenlosen Exekutoren

Nach 1949 waren diese Schreibtischtäter noch nicht im Focus einer gerechten Aufarbeitung. Ich widerspreche heftig der Ansicht von Hannah Arendt, die in unzähligen Schriften meinte, die NS-Verbrecher seien nur willenlose Exekutoren und Befehlsautomaten gewesen, weil sie doch alle aus der Mitte der Gesellschaft, aus allen Bevölkerungsschichten und oft auch mit überdurchschnittlichem Bildungshintergrund ausgestattet waren. Diese Funktionseliten agierten nicht nur, indem sie die Verbrechen des NS-Regimes deckten und billigten, sondern sie beteiligten sich auch selbst daran. Dieses Verhalten war von Nützlichkeitserwägungen und Zweckorientierungen bestimmt, dazu kamen noch Antisemitismus, Gruppendruck und Autoritätsgläubigkeit, um Karriere zu machen. Diese juristischen Täter meinten, dass diese Motive es ermöglichen würden, sich später von ihren Taten erfolgreich zu distanzieren.

Der Inhalt der Personalakten aller Richter und Staatsanwälte dokumentiert nicht nur die Prüfungsleistungen an der Universität, sondern auch den beruflichen Werdegang, beschleunigt durch die Mitgliedschaft in der NSDAP und in diversen weiteren juristischen Gliederungen, wie beispielsweise dem nationalsozialistischen Rechtswahrerbund.

Als emeritierter Anwalt möchte ich noch auf das Opus "Advokaten 1938" von Ilse Reiter-Zatloukal und Barbara Sauer verweisen, das sich mit den Schicksalen der Anwälte und Anwärter, die von 1938 bis 1945 ihre Ausbildung nicht fortsetzen konnten, beschäftigt. Ich denke, die Verantwortlichen in Österreich wären gut beraten, sich die deutsche Vorgehensweise zum Vorbild zu nehmen, um auch in Österreich einen endgültigen Schlussstrich über dieses beschämende Kapitel der österreichischen Justiz zu ziehen.