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Eine Provokation für die "illiberale Demokratie"

Von Gerhart Holzinger

Recht

Verfassungsgerichte sind wichtigsten Garanten des Rechtsstaates. Gerät liberale Demokratie ins Wanken, kommen sie in Bedrängnis.


Die Weihnachtspost der EU-Kommission an die polnische Regierung war unmissverständlich: Polen, wo seit Herbst 2015 die PiS-Partei ("Recht und Gerechtigkeit") regiert, möge sicherstellen, "dass das Verfassungsgericht in seiner Funktion als Garant der Verfassung nicht geschwächt wird", schrieb die Kommission am 21. Dezember des Vorjahres. Warschau ließ sich davon nicht beeindrucken: Die Kritik sei "unbegründet", teilte das Außenministerium mit.

Die Auseinandersetzung um das polnische Verfassungsgericht bildet den bedauerlichen Höhepunkt einer Entwicklung, die nicht nur in Polen zu beobachten ist. Überall dort, wo der liberale Rechtsstaat einer ungezügelten Herrschaft dessen weichen soll, was die Regierenden zum Willen des Volkes erklären, gehören die Verfassungsgerichte zu den ersten Opfern.

In Ungarn hat die Mehrheit im Parlament bereits im März 2013 die Kompetenzen des Verfassungsgerichts beschnitten. In der Türkei will sich Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Zugriff auf das Verfassungsgericht sichern. Nach dem Putschversuch wurden zwei Richter inhaftiert und abgesetzt. Und Dekrete, die Erdogan gemäß dem im vergangenen Sommer verhängten Ausnahmezustand erlässt, entziehen sich ohnehin der Überprüfbarkeit durch das Verfassungsgericht.

Es liegt auf der Hand, warum jene, die aus einer bei Wahlen erreichten Mehrheit absolute Macht ableiten wollen, vor allem die Verfassungsgerichtsbarkeit ins Visier nehmen: Ist sie doch der wichtigste Garant dafür, dass die Mehrheit im demokratischen Rechtsstaat nicht missbraucht wird. Verfassungsgerichtsbarkeit und die "illiberale Demokratie" vertragen sich nicht.

Zwangsurlaub

Zurück nach Polen. Der Konflikt um das Verfassungsgericht schwelt, seit die PiS-Partei unter Jaroslaw Kaczynski am 25. Oktober 2015 die Parlamentswahl gewonnen hat. Umstritten ist die Nachbesetzung freier Richterstellen; und Erkenntnisse, mit denen das Gericht Gesetze als verfassungswidrig erklärt hat, mit denen es weitgehend lahmgelegt werden soll, hat die Regierung schlicht nicht veröffentlicht. Gerichtspräsident Andrzej Rzeplinksi versuchte, sich dem Druck zu widersetzen. Im Dezember 2016 lief seine Amtszeit aber aus. Der langjährige Vizepräsident Stanislaw Biernat wurde von Rzeplinksis Nachfolgerin Julia Przylebska in Zwangsurlaub geschickt.

Die EU-Kommission beobachtet die Vorgänge aufmerksam. Bereits am 13. Jänner 2016 setzte sie den ersten Schritt für ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen. Mehr als ein Jahr später ist kein Ausweg in Sicht. Stattdessen spitzten sich die Spannungen zwischen Brüssel und Warschau zuletzt zu. Auch der Europarat und die ihm angegliederte Venedig-Kommission haben sich besorgt über die Entwicklung gezeigt.

Es schmerzt, sehen zu müssen, wie Verfassungsgerichte unter Druck gesetzt werden. Der österreichische Verfassungsgerichtshof pflegt seit langem enge Kontakte mit anderen europäischen Verfassungsgerichten, vor allem auch mit jenen in Polen und Ungarn. Das polnische Verfassungsgericht hat in den vergangenen Jahrzehnten seine Aufgabe geradezu vorbildlich erfüllt. Andrzej Rzeplinksi und Stanislaw Biernat sind - wie ihre Vorgänger - international hoch angesehen.

Dasselbe gilt für Ungarn. Dort hat László Sólyom nach der Wende in den 1990er Jahren das Verfassungsgericht zu hohem Ansehen geführt. Später wurde er zum Staatspräsidenten gewählt. Auch in der Türkei hat das Verfassungsgericht noch bis zum Vorjahr mutige Entscheidungen gefällt, die dem Interesse Erdogans zuwiderliefen.

Respekt vor der Verfassung

Kern der Auseinandersetzung sind das Verständnis für und der Respekt vor der Verfassung. Kein staatliches Organ, egal ob Gesetzgebung, Exekutive oder Gerichtsbarkeit, darf für sich in Anspruch nehmen, über der Verfassung zu stehen. Auch eine Mehrheit im Parlament kann diesen Grundsatz nicht einfach außer Kraft setzen. Und der beste Hüter dieses Prinzips ist ein starkes und von den politischen Kräften in Regierung und Parlament unabhängiges Verfassungsgericht.

Ein solches Verfassungsgericht mag eine Provokation für all jene sein, die glauben, legitimiert vom angeblichen Volkswillen ohne Schranken agieren zu können. Die Verfassungsgerichtsbarkeit bildet aber keinen Gegensatz zur Demokratie, sie schützt sie vielmehr. Hans Kelsen, der Architekt unserer Bundesverfassung, hat betont, dass Demokratie nicht als "schrankenlose Herrschaft" der Mehrheit missverstanden werden dürfe. Das Wesen dieser Staatsform liege vielmehr im steten Kompromiss zwischen der Mehrheit und der Minderheit im Parlament.

Dem Verfassungsgericht kommt dabei die Aufgabe zu, die Rechte der Minderheit und die Grundrechte des Einzelnen vor Übergriffen der Mehrheit und des durch sie repräsentierten Staates zu bewahren. Es ist die rechtsstaatliche Kampfansage an ein illiberales Politikverständnis: Streitigkeiten über die Auslegung der Verfassung sind nicht nur politische, sondern auch rechtliche Konflikte. Und als solche können sie durch ein Gericht - also mit den Mitteln des Rechts und nicht nur politisch - entschieden werden. Diese Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit hat ihren Ursprung in Österreich, in den Arbeiten von Hans Kelsen. In zahlreichen Staaten Europas, aber auch anderer Kontinente, hat das Modell Nachahmung gefunden. Die Mitglieder des österreichischen Verfassungsgerichtshofes leiten aus diesem Umstand eine besondere Verantwortung für die Erhaltung und Pflege dieser Institution ab.

Funktionieren kann dieses Modell nur, wenn die politischen Akteure und die Gesellschaft den Vorrang der Verfassung und damit auch die Verfassungsgerichtsbarkeit akzeptieren und respektieren. Es ist zu hoffen, dass sich die Verantwortungsträger überall in Europa dieser Zusammenhänge wieder bewusst werden - also auch dort, wo diese Errungenschaften Gefahr laufen, dem vermeintlichen Willen des Volkes geopfert zu werden.

Gerhart Holzinger ist seit 1995 Mitglied des Verfassungsgerichtshofes, seit 2008 dessen
Präsident. Gebürtig aus Gmunden (OÖ), war der heute 69-Jährige zuvor
Mitarbeiter und ab 1984 Leiter des Verfassungsdienstes im
Bundeskanzleramt. 2011 bis 2014 war Holzinger Vorsitzender der Konferenz
der Europäischen Verfassungsgerichte.