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Baustelle Maßnahmenvollzug

Von Wolfgang Gratz

Recht

Wie gesund ist der Umgang mit psychisch gestörten Straftätern?


Die Ergebnisse der "Sonderkommission Brunnenmarkt" und der Entwurf des Maßnahmenvollzugsgesetzes: Diese zwei Themen standen Mitte des Vormonats im Fokus zweier Präsentationstermine im Justizbereich.

Zur Vorgeschichte: Im Mai 2016 hatte ein psychisch kranker, vorbestrafter und von der Justiz zur Aufenthaltsermittlung ausgeschriebener Täter auf dem Wiener Brunnenmarkt eine 54-jährige Frau auf dem Weg zu ihrer Arbeit mit einer elfeinhalb Kilogramm schweren Eisenstange erschlagen. Im November wurde der mittlerweile 22-jährige N. von einem Schwurgericht aufgrund seiner hochgradigen paranoiden Schizophrenie als nicht zurechnungsfähig eingestuft und in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Eine von Justizminister Wolfgang Brandstetter eingerichtete Sonderkommission evaluierte den Fall.

Diese kam nun zum Ergebnis, dass N. keine Hilfs- und Unterstützungsangebote der Kinder- und Jugendhilfeträger bekommen hatte; obwohl es geboten gewesen wäre, nach aufgetretener Straffälligkeit keinen Bewährungshelfer bekommen hatte; eine bereits 2011 in U-Haft erstellte psychiatrische Diagnose nicht dem Gericht bekanntgegeben wurde; die Zusammenarbeit zwischen Jugendgerichtshilfe und Kinder- und Jugendhilfe nicht funktionierte; diese auch durch die Polizei nicht von Auffälligkeiten unterrichtet wurden; zwei Attacken mit Eisenstangen auf Frauen im Mai und Juni 2015 aufgrund von Informationsmängeln nicht als Ausdruck einer psychotischen Störung mit entsprechender Gefährlichkeit erkannt wurden und die Polizisten, Sozialarbeiter und Psychiater, die mit dem im Gebiet Brunnenmarkt lebenden Obdachlosen Kontakt hatten, nichts von den Gewalttaten wussten.

Reform einer strafrechtlichen Maßnahme wurde verschleppt

Im Punkt 13 des Berichtes heißt es: "(. . .) ein weiteres Beispiel für behördliche Parallelwelten ohne brauchbare Verbindungen und klare Verantwortungszuweisung."

Die Kommission erstattete eine Reihe von Vorschlägen, um die Arbeit der Kinder- und Jugendhilfeträger, der Jugendgerichtshilfe, von Sozialarbeitern und Psychiatern, der Polizei und ihrer Amtsärzte, der Gerichtsbarkeit zu verbessern und insbesondere den Informationsfluss und die Kommunikation zwischen Behörden und Akteuren zu fördern. Zudem regte sie eine Überprüfung einer Bestimmung des Unterbringungsgesetzes (Auseinandersetzung mit den Begriffen "Fremdgefährlichkeit" und "Selbstgefährlichkeit") an.

Im Kommissionsbericht findet sich, was in Anbetracht der tragischen konkreten Umstände des Falles nicht verwundern mag, keine einzige Äußerung über Probleme oder Veränderungsbedarf im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Verurteilung zu einer Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher (§ 21 StGB). Das ist insofern bedeutsam, als der "Brunnenmarkt-Mord" erhebliche Auswirkungen auf die Verschleppung einer Reform dieser strafrechtlichen Maßnahme hatte. Dies sei näher ausgeführt:

Im Juni 2014 wurde bekannt, dass ein betagter Mann, der im bis zu lebenslang dauernden Maßnahmenvollzug untergebracht war, wie es in den Medien benannt und bildlich dargestellt wurde, "verfaulte Füße" hatte. Dies war das Symptom eines tiefliegenden Problems, nämlich, dass die Mehrzahl der zurechnungsfähigen Untergebrachten in Strafvollzugsanstalten unter Bedingungen angehalten werden, die dem "Abstandsgebot", also der Unterscheidung von Straf- und Maßnahmenvollzug, nicht entsprechen. Der Maßnahmenvollzug wäre vom gesetzlichen Auftrag her zudem konsequent behandlungsorientiert auszurichten.

Was die jahrelang geübte Kritik von Menschenrechts- und anderen Experten, der Volksanwaltschaft und des Rechnungshofs nicht erreicht hatte, bewirkte die Kraft der Bilder: Es gab hohe öffentliche Aufmerksamkeit. Der Minister setzte eine Arbeitsgruppe ein, die unter hohem Zeitdruck zwischen September 2014 und Jänner 2015 einen Bericht mit Vorschlägen erarbeitete.

Eckpfeiler waren: die Einweisungsschwelle anzuheben, also lediglich Verbrechen als Anlasstaten für eine bis zu lebenslange Einweisung vorzusehen; bedingte Einweisungen auszubauen; die Maßnahme nicht mehr auch in Strafvollzugsanstalten, sondern nur in therapeutischen Zentren, die konsequent therapeutisch ausgerichtet sind, zu vollziehen, einen hohen Rechtsschutz vorzusehen, den Entlassungsvollzug, die Entlassungsverfahren und die Nachbehandlung und Nachbetreuung zu verbessern. Die Arbeitsgruppe war auch der Auffassung, dass nicht zurechnungsfähige Untergebrachte ausschließlich in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht werden sollten, wobei über Einweisung und Entlassung weiterhin die Strafgerichte zu entscheiden hätten. Ausschlaggebend war, dass mehr als 90 Prozent der Eingewiesenen zumindest eine, in der Mehrzahl der Fälle mehrere psychiatrische Vorpflegen haben. Es sollte bei diesen herausfordernden Patienten vor, während und nach der Einweisung lediglich eine institutionelle Zuständigkeit für ihre stationäre und ambulante Behandlung bestehen, nämlich die des Gesundheitssystems.

Auch Zweifler an der Umsetzungsstärke des Justizministeriums hegten durchaus Hoffnung, dass diese Vorschläge zügig umgesetzt würden, bestand doch gut die Hälfte der Arbeitsgruppen-Mitglieder aus Ministerialbeamten, darunter vier Sektionschefs. Zudem befand der Minister auch öffentlich die Vorschläge der Arbeitsgruppe als umsetzungswürdig.

Entwurf entsprachnicht mehr den Ansprüchen

Zunächst einmal geschah jedoch legistisch nichts. Erst im Frühjahr 2016 wurde bekannt, dass ein Gesetzesentwurf weit gediehen sei. Wie auch sonst, wenn Reformen sich Zeit lassen, treten Kritiker auf, im konkreten Fall einige wenige, aber prominente Psychiater.

Dann geschah das Tötungsdelikt auf dem Brunnenmarkt. Der Minister zeigte sich entsetzt und erklärte, dass der Entwurf noch einmal überarbeitet werden müsste. Insbesondere der Vorschlag der Arbeitsgruppe, lediglich Verbrechen als Anlassdelikte für eine bis zu lebenslange Einweisung zu normieren, erschien ihm nicht mehr zielführend. Der vorliegende Entwurf entsprach nicht mehr seinen Ansprüchen und Erwartungen.

Das behördliche Multiorganversagen, das sich im Vorfeld des Mordes auf dem Brunnenmarkt ereignet hatte und somit in keiner Weise in direktem Zusammenhang mit dem § 21 StGB stand, diente als Argument, die überfällige Reform des Maßnahmenrechts und Maßnahmenvollzugs weiter zu verzögern.

Im Herbst 2016 wurde bekannt, dass ein Strafrechtsprofessor der Universität Wien mit der Ausarbeitung eines neuen, aber auf den Ergebnissen der Arbeitsgruppe und des Ministerialentwurfs aufbauenden Gesetzestextes beauftragt worden war. Es hieß, dass das Ergebnis Anfang 2017 vorliegen würde. Diese Vorgehensweise wurde in der Fachwelt einerseits mit Interesse verfolgt, weil dies der erste Fall von Outsourcing der Gesetzgebung im Bereich des Justizministeriums war, andererseits mit Sorge beobachtet, da bereits im Herbst 2016 die Möglichkeit von Neuwahlen erkennbar im Raum stand.

Nunmehr steht fest, dass die Baustelle Maßnahmenvollzug in dieser Legislaturperiode offen bleibt. Wer der nächste Justizminister ist, wie er zu dem Entwurf steht, wie die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse sind, welches rechtspolitische Programm die nächste Regierung hat, das alles ist völlig ungewiss. Aus dem Verlauf lässt sich jedenfalls nicht ableiten, dass ein Outsourcing der Legistik zu rascheren Ergebnissen führt.

Der nunmehr der Öffentlichkeit vorgestellte Entwurf entspricht über weite Strecken den Vorschlägen der seinerzeitigen Arbeitsgruppe. Insbesondere dort, wo es dezidierte Willensäußerungen des Ministers gab, orientiert er sich an diesen. Dazu gehört vor allem auch die Möglichkeit, aus der Maßnahme Entlassene elektronisch mittels Fußfessel (Tracking) zu überwachen. Alle mir bekannten Praktiker aus dem Maßnahmenvollzug wie aus der Nachbetreuung halten diese Vorgehensweise für sehr teuer und gleichzeitig ungeeignet zur Verhinderung von Rückfällen. Zudem ist diese Form der Überwachung in hohem Ausmaß stigmatisierend und erschwert somit eine soziale Reintegration. Eine normale Lebensführung (zum Beispiel im Sommer mit einer kurzen Hose gehen, ein Bad aufsuchen, an bestimmten Arbeitsplätzen sowie in persönlichen Beziehungen nicht als Fußfesselträger erkennbar sein) ist über die bis zu zehnjährige Probezeit hinweg deutlich beeinträchtigt.

Zuständigkeiten pendeln zwischen Bund und Ländern

Inhaltlich sei hier lediglich noch ein Punkt angesprochen, der eine gewisse Ähnlichkeit zu den Ergebnissen der Brunnenmarkt-Kommission hat: Der Vorschlag der Arbeitsgruppe, dass unzurechnungsfähige Untergebrachte ausschließlich in psychiatrischen Krankenhäusern oder Abteilungen des allgemeinen medizinischen Versorgungssystems untergebracht und behandelt werden sollten, wurde gegenüber Ländervertretern kurz thematisiert. Als diese negativ reagierten, wurde er beiseitegelegt. Die Fragmentierung der Zuständigkeiten für (potenziell) gefährliche psychisch erkrankte Personen zwischen Bund und Ländern bleibt aufrecht. Fragen besserer Kooperationsformen und eines bemühteren Nahtstellen-Managements blieben bisher zumindest weitgehend ausgespart.

Wolfgang Gratz: Der Soziologe und Jurist habilitierte in Kriminologie. Er betreibt empirische Verwaltungsforschung und ist Lehrender an der Universität Wien sowie an Fachhochschulen, Supervisor und Organisationsberater. 
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Was bleibt, ist einerseits das Bedauern, dass eine notwendige und weitgehend vorbereitete Reform über zweieinhalb Jahre lang verzögert wurde. Zum anderen zeigt sich, dass auch im Bereich der Kriminalpolitik das politische System als Echokammer für - und seien es gut nachvollziehbare - öffentliche Erregungen fungiert und auf diese Weise eine kühle, nachhaltige, lösungsorientierte und zugleich zügige Weiterentwicklung des Strafrechts politisch nicht zeitgerecht umzusetzen vermag. Auf diese Weise wird weder berechtigten Sicherheitsbedürfnissen entsprochen, noch werden menschenrechtlichen Standards gewahrt.