Zum Hauptinhalt springen

Grenzenlos verschuldet

Von Wolfgang Vogel

Recht

Lohnende Ziele zur Restschuldbefreiung im Tourismus.


© Fotolia/VIGE.co

Reif für die Insel - für die britische Insel. Manche Schuldner sahen das so, sind abgehauen und haben Tee getrunken. Englischen. Wie wird sich das nach dem Brexit ändern? Oder gibt es dann neue Ziele für den Restschuldbefreiungstourismus? Und warum gibt es diese touristische Form überhaupt? Alles Fragen, die sich um das neue Verhältnis Großbritanniens zur Europäischen Union ranken.

Auch die Insolvenzen überwanden die Grenzen innerhalb der EU. Natürlich auch die Verfahren, die man landläufig "Privatkonkurs" nennt. Wer Chancen für einen Job im Ausland wahrnahm, musste also auch im Ausland scheitern dürfen. Und dabei die Schulden seiner neuen Heimat regulieren und natürlich auch die Verpflichtungen, die gewissermaßen im Gepäck mit eingereist sind. So entstand die EU Insolvenz Verordnung (EuInsVO) als legitimes Kind der Arbeitnehmerfreizügigkeit und natürlich auch der Freiheit des Kapitalverkehres.

So können Schulden Grenzen überwinden. Das staatliche Gewaltmonopol erlaubt den Schulden zwar, ins Unermessliche zu wachsen, die Betreibung nach der Exekutionsordnung endet aber an den Staatsgrenzen. Der österreichische Gläubiger eines Schuldners, der nach England abgehauen ist, müsste also bei einem englischen Gericht die Betreibung beantragen.

Sicheres Ziel England

Nach der Insolvenzordnung wird aber dem Schuldner eine Mitwirkungspflicht auferlegt, die im wahrsten Sinn Grenzen überwindet. Genau genommen bringt dies beiden Seiten Vorteile. Der Gläubiger kann auf alle Vermögenswerte des Schuldners im gesamten EU-Raum zugreifen. Und der Schuldner kann alle seine Vermögenswerte zur Schuldenregulierung einsetzen - selbst, wenn er dies nicht in allen Fällen als Vorteil empfindet.

Voraussetzung für dieses grenzenlose Verfahren ist aber, dass in den beteiligten Ländern die Verfahren zumindest in einigen Grundzügen vergleichbar sind. Dabei geht es vor allem um das rechtliche Gehör, das für die Beteiligten sichergestellt sein muss. Ausdrücklich ausgenommen ist von dieser Vergleichbarkeit die Dauer der Phase, die Wohlverhaltensphase, Abschöpfungsphase oder sonst wie heißt, also der Zeitraum ab Ende des Konkurses bis zum Ausspruch der Restschuldbefreiung.

Und da schaut es so aus, als könnte man es sich wie im Supermarkt unter den Angeboten aussuchen. Aber, wie beim Sonderangebot, Augen auf! Formell ist der Ort des Verfahrens nämlich an das Wohnsitzerfordernis gebunden. Für die Schulden ist das Gericht zuständig, wo man den ordentlichen Wohnsitz und den Mittelpunkt der Interessen hat.

England erweist sich da immer noch als sicheres Ziel. Die Wohlverhaltensphase dauert genau ein Jahr. Ein halbes Jahr muss man im Königreich gelebt haben. Insgesamt ist man also in 18 Monaten seine Schulden los. Das fehlende Meldesystem und die ausgeprägte "My home is my castle"-Rücksicht verhindern penible behördliche Nachschau, und überdies sehen es die Richter eher entspannt. Wenn nicht zwei Dutzend Insolvente in einem 30 Quadratmeter großen Appartement zusammenleben, kann nicht viel passieren. Und auch dann nur, wenn diese Wohngemeinschaft durch Zufall auffliegt. Nachteil ist nur die Tatsache, dass die Gerichte in den Zentren ziemlich überlaufen sind. Abhilfe schafft da ein Ausweichen nach Schottland oder Wales.

Penibles Frankreich

Penibler geht man in Frankreich ans Werk. Wer im schönen Elsass-Lothringen neben der ausgezeichneten Kulinarik auch eine Entschuldung genießen will, muss einiges aufführen. Die Behörde kontrolliert Strom- und Zählerstände, macht Sichtkontrollen, Befragungen. Kurzum: Es ist gar nicht so einfach nachzuweisen, dass man in der Wohnung ein halbes Jahr tatsächlich auch wohnt. Wenn das Gericht zum Schluss kommt, dass kein Vermögen mehr vorhanden ist - dann ist alles vorbei. Eine Wohlverhaltensphase gibt es nicht.

Nach der Verkürzung der Abtretungsfrist in Österreich von sieben auf fünf Jahre sind einige touristische Ziele weniger attraktiv geworden. In Deutschland beträgt die Frist sechs Jahre (keine Mindestquote), in Schweden bekommt der Schuldner einen Plan, nach dem er in fünf Jahren so viel zurückzahlen muss, wie es ein Verwaltungsgericht anordnet.

Nur: Ist die Anknüpfung an das Wohnsitzerfordernis tatsächlich gerecht? Gewiss kann damit dem Restschuldbefreiungstourismus ein Riegel vorgeschoben werden. Wer den Wohnsitz verlegt, nur um in den Genuss einer Entschuldung nach einer "günstigeren" Rechtsordnung zu kommen, begeht eine Umgehungstat, die das Ergebnis des Verfahrens unwirksam macht. Das ist insbesondere anzunehmen, wenn jemand genau nach den Fristen anmietet und die Miete unmittelbar nach Verstreichen der Frist kündigt. Andererseits hemmt aber gerade das Wohnsitzerfordernis das Grundrecht der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Konkret: Wenn jemand während des Abschöpfungsverfahrens im Ausland einem besser bezahlten Job nachgehen will. Begeht man dann eine Obliegenheitsverletzung? Obwohl die Gläubiger mit einer höheren Quote befriedigt werden? Hier wäre dringend eine Harmonisierung notwendig.

In dieser Situation schert ein wichtiger Player aus. Für EU-Bürger in Großbritannien, für britische Bürger in der EU, für Gläubiger und Schuldner, die auf die Freiheit des Kapitalverkehrs gesetzt haben -auf alle kommen neue Zeiten und neue Probleme zu. In diesem Licht sollte man die Probleme sehen, die derzeit Boris Becker hat. Eine englische Richterin hat ihn als zahlungsunfähig erklärt. Damit kann die englische Gläubigerbank ihn entsprechend der Mitwirkungspflicht zwingen, seine spanischen Liegenschaften zu veräußern.

Bei einem kosmopolitischen Tennisspieler bereitet das wohl ihm selbst die größten Probleme. Für viele andere und vor allem für die Wirtschaft wird es spannend sein, was bei den Brexit-Verhandlungen herauskommt. Denn die Insolvenz hat eine Zwillingsschwester namens Kreditsicherung.

Wolfgang Vogel studierte Rechtswissenschaft, Philosophie, Politikwissenschaft und Geschichte in Graz, Linz, Hagen (Nordrhein-Westfalen), Milton Keynes (England) und Wien. Er ist derzeit für eine Unternehmensgruppe tätig, die sich bemüht, Arbeitslose in den Arbeitsmarkt zu integrieren.