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Vom Verdächtigen zum Schuldigen

Von Petra Tempfer

Recht

Ein neues EU-Projekt untersucht die mitunter einseitige Darstellung von Beschuldigten. Wien leitet den Bereich Medienanalyse.


Wien. "Es gilt die Unschuldsvermutung." Wie oft ist dieser Satz in Artikeln über Mordfälle, Betrugsvorwürfe oder Gerichtsverhandlungen zu lesen. Und wie oft hat man sich dennoch schon während des Lesens des Artikels oder beim Betrachten der Fotos ein Bild über den Verdächtigten gemacht - und sein ganz persönliches Urteil über ihn gefällt.

Vielleicht aufgrund dessen, dass der vermeintliche Mörder von mehreren Polizisten flankiert in den Gerichtssaal geführt wurde. Oder dass man den Angeklagten in Handschellen vorgeführt hat. Laut EU-Gesetzen müssen zwar alle Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass Verdächtige und Beschuldigte weder in Gerichtssälen noch in der Öffentlichkeit als schuldig dargestellt werden - die Praxis sieht dann aber doch oft anders aus.

Analyse von Gerichtsberichten

Um die korrekte Implementierung der betroffenen EU-Richtlinie 2016/343 voranzutreiben, haben Österreich, Ungarn, Kroatien, Malta, Spanien und Griechenland ein EU-Projekt gestartet. In den kommenden zwei Jahren soll im Zuge dessen unter der Leitung des Hungarian Helsinki Committee der Unschuldsvermutung mehr Gewicht verliehen werden. Das Projekt wird durch das "Gerechtigkeits-Programm" der EU finanziert.

Es gliedere sich in mehrere Teile, sagt Katharine Sarikakis vom Media Governance & Industries Research Lab an der Universität Wien. Laut der Kommunikationswissenschafterin ist geplant, eine Gesetz- sowie eine Medien- und Gerichtsanalyse durchzuführen, wobei Wien die Leitung der Medienanalyse innehat. Das wird unter anderem in Form von Komparativanalysen, Test-Umfragen sowie der Analyse nationaler Gerichtsberichte passieren. Anschließend soll eine Datenbank mit "Good-Practice-Beispielen" und Leitfäden für Gerichte und Medien erstellt werden, zudem soll es Workshops und Trainings geben.

Im Zuge des Projektes soll also erarbeitet werden, wie Angeklagte in der Öffentlichkeit (Medien und Gerichtssäle) dargestellt werden und wie die Gesetzeslagen der beteiligten Länder dazu aussehen. In Österreich etwa haben Medien die Unschuldsvermutung umfassend zu wahren. Zur Selbstkontrolle der Presse gibt es den Presserat.

Und dennoch seien es oft Kleinigkeiten, so Sarikakis zur "Wiener Zeitung", die einen Angeklagten in einem bestimmten Licht erscheinen ließen. Die Zahl oder das Verhalten der Polizisten etwa, die diesen in den Gerichtssaal führen, könne übertrieben sein. Allein die Tatsache, dass ihn Uniformierte begleiten, könnten ihm in seiner Wahrnehmung in der Öffentlichkeit etwas Gefährliches, Bedrohliches verleihen. Das Gleiche gelte für Handschellen und Fußfessel.

"Das gesamte Erscheinungsbild eines Menschen hat seine Wirkung auf die Öffentlichkeit. Ob ein Verdächtiger die Hände hinter dem Rücken in Handschellen oder frei vor dem Körper trägt, ob er sich aus Angst vor den Medien eine Kapuze über den Kopf zieht oder ein Buch vors Gesicht hält - das alles hat einen Einfluss", so Sarikakis. Männer wirkten dabei nicht grundsätzlich schuldiger als Frauen. Bei Frauen werde in der Öffentlichkeit stark polarisiert. "Entweder, sie ist das Opfer, oder die pathologische Kriminelle."

Die Sicherheitsvorkehrungen und die Tendenz, Verdächtige in der Öffentlichkeit zu Schuldigen zu machen, hätten sich sogar verschärft, denn: "Die Gefahr des Terrorismus hat unser Justizsystem durcheinandergebracht", sagt Sarikakis. Vorsicht sei freilich geboten, umso wichtiger sei es aber auch, eine Person nicht vorschnell öffentlich zu verurteilen.

80 Millionen Verdächtige

Rund 80 Millionen Menschen werden jedes Jahr in der EU zu Verdächtigen. Ob wohl einige von diesen unschuldig verurteilt werden? "Wir können nicht davon ausgehen, dass das nicht passiert", sagt Sarikakis. Die Geschworenengerichtsbarkeit, die in Österreich heftig umstritten ist und deren Reform im Raum steht, ist zwar kein konkreter Teil des Projektes - laut Sarikakis wird sie aber im Zuge der Analysen und Vergleiche "sicherlich Thema werden".

Zuletzt blitzte der wegen terroristischer Vereinigung sowie Anstiftung zum Mord und schwerer Nötigung (nicht rechtskräftig) zu 20 Jahren Haft verurteilte radikalislamistische Prediger Mirsad O. vor dem Verfassungsgerichtshof mit einer Beschwerde ab: Er hatte sein Recht auf ein faires Verfahren verletzt gesehen, weil Urteile von Geschworenengerichten nicht begründet werden müssen.