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"Viele Vergewaltiger laufen frei herum"

Von Daniel Bischof

Recht

Höhere Strafen schrecken Triebtäter nicht ab, meint Strafrechtlerin Beclin. Wichtiger sei es, die Täter überhaupt zu erwischen.


Wien. Der soziale Frieden werde durch zu geringe Strafen gefährdet. Zu milde würden die Richter in Sexualstrafsachen urteilen.
Etliche Urteile seien der Bevölkerung nur schwer erklärbar. Es brauche endlich höhere Strafen, die auf breite Akzeptanz stoßen. Mit diesen Argumenten tritt Staatssekretärin Karoline Edtstadler (ÖVP) für Verschärfungen bei Sexualdelikten und bei Gewaltdelikten gegen Frauen und Kinder ein. Die "Wiener Zeitung" sprach mit Strafrechtlerin Katharina Beclin über die Reformpläne.

"Wiener Zeitung": Frau Beclin, was halten Sie von diesen Argumenten? Sollte man auf diese (angebliche oder tatsächliche) Meinung in der Bevölkerung Rücksicht nehmen?

Katharina Beclin: Nein. Die Meinung in der Bevölkerung beruht auf der falschen Annahme, dass eine höhere Strafe zu mehr Gerechtigkeit führt. Opferbefragungen haben aber ergeben: Die Opfer haben kaum ein Interesse an einer höheren Strafe. Sie wollen finanzielle Unterstützungen bekommen - etwa Schadenersatz oder einen Kostenzuschuss für die teure Therapie. Zudem wollen sie, dass der Täter keine weitere Tat begeht. Und das ist viel eher gewährleistet, wenn der Täter eine Therapie macht. Die Haft ist keine sinnvolle Prävention. Sie ruiniert den Menschen höchstens vollkommen.

Was meinen Sie damit?

Eine Haftstrafe schockiert und schränkt ein. Sogar Menschen, die nur wenige Tage in Haft waren, fällt es bisweilen schon schwer, ihren Lebensalltag nach der Entlassung wieder zu meistern. Denn die Haftstrafe führt zu Kontrollverlust, und längere Haftstrafen sogar zu einem Abbau an Hirnsubstanz. Es ist fast schon mittelalterlich, zu glauben, mit höheren Haftstrafen Probleme lösen zu können. Eine kurzfristige Haftstrafe, die mit einer Therapie kombiniert wird, ist viel sinnvoller als eine lange Haftstrafe.

Schrecken höhere Haftstrafen nicht mehr ab als kurze?

In Studien hat man immer wieder versucht, einen Konnex zwischen höheren Strafen und einer besseren Abschreckung nachzuweisen. Das ist bisher aber noch nie gelungen. Und solange es nicht gelingt, das nachzuweisen, gibt es aus menschenrechtlicher Sicht das Verbot, die Strafe zu erhöhen. Denn ich darf ja nur die Eingriffe in die Menschenrechte vornehmen, für die es keine sinnvolle Alternative gibt.

Was schreckt einen Täter dann ab?

Entscheidend ist die Anzeige- und Entdeckungswahrscheinlichkeit. Das zeigen Studien. Je wahrscheinlicher ist, dass ich erwischt und verurteilt werde, desto eher werde ich das strafbare Verhalten vermeiden. Diese Wahrscheinlichkeit ist bei Sexualstraftaten aber sehr gering.

Können Sie Zahlen nennen?

Nur jede zehnte Vergewaltigung wird angezeigt. Und von den angezeigten Tatverdächtigen wurden 2016 nur vierzehn Prozent verurteilt. Dabei gibt es Studien, welche den Anteil an Falschbeschuldigungen bei Vergewaltigungsvorwürfen geschätzt haben. Alle Studien sind bisher noch nie auf einen Wert über zehn Prozent gekommen. Daraus lässt sich schließen, dass sogar viele zu Recht angezeigte Vergewaltiger frei herumlaufen. Dazu kommen noch die 90 Prozent, die gar nicht angezeigt wurden. Was bringt es, die wenigen, die ich erwische, so extrem hart zu bestrafen, wenn doch die meisten sowieso frei herumlaufen? Das ist auch völlig kontraproduktiv, weil vor allem Opfer im sozialen Nahraum von hohen Strafdrohungen von einer Anzeige abgeschreckt werden.

Wie könnte die Anzeige- und Verurteilungswahrscheinlichkeit erhöht werden?

Man könnte den Opfern mit einem Vertrauensvorschuss entgegenkommen. Das heißt bitte nicht, dass eine Anzeige zwangsläufig zu einer Verurteilung führen muss. Natürlich braucht es weiterhin den Grundsatz "In dubio pro reo". Dieser darf nicht aufgeweicht werden. Wenn Zweifel bestehen, darf man nicht verurteilt werden. Allerdings darf man bei der Vernehmung des Opfers auch nicht von Anfang an von einer Falschaussage ausgehen.

Die anzeigende Person sollte also mit Fingerspitzengefühl vernommen werden?

Genau. Häufig haben die Opfer aber von den vernehmenden Beamten bei der Polizei einen guten Eindruck. Da gibt es oft geschulte Kontaktbeamte. Dann aber bekommen die Opfer vom Staatsanwalt, von dem sie nie vernommen wurden, plötzlich einen Einstellungsbeschluss. Aufgrund von Zeitmangel oder Überlastung wird das Ermittlungsverfahren einfach eingestellt, wenn sich die Aussagen von Opfer und Beschuldigten widersprechen. Da fragen sich die Opfer schon, warum sie die Tortur einer belastenden Aussage bei der Polizei auf sich genommen haben.

Wenn es dann zu einer Verurteilung kommt, wird den Richtern oft vorgeworfen, sie würden den Strafrahmen kaum ausnützen. Zuletzt ist es bei versuchten Vergewaltigungen etwa zu teilbedingten Haftstrafen gekommen. Daher sollen die Mindeststrafrahmen angehoben werden. Was halten Sie davon?

Ein Richter, der chronisch zu milde Urteile fällt, ist mir noch nicht untergekommen. Wo liegt außerdem das Vertrauen, dass die Richter einen Sachverhalt richtig einschätzen? Es gibt nun mal Milderungs- und Erschwerungsgründe, die man im Einzelfall prüfen muss. Manche Delikte setzen bei der unteren Schwelle an. Bei denen stellt es ein Problem dar, wenn es einen Mindeststrafrahmen gibt. Die kann man dann nur schwer unterschreiten.

Es bringt nichts, jemanden zwangsweise sechs Monate einzusperren. Er wird sich durch die Haft nicht bessern, sondern höchstens durch die Therapie, die er aber auch ambulant - verbunden mit einer bedingten Strafe - bekommen kann.

Wechseln wir auf die Täterseite. Wer begeht überhaupt ein Sexualdelikt?

Die Täter kommen überwiegend aus dem sozialen Nahraum. Jemand, der gewalttätig ist, lässt das am ehesten an demjenigen aus, der ihm ausgeliefert ist. Also etwa an der eigenen Ehefrau.

Inwiefern beeinflusst diese Nähe die Anzeigebereitschaft?

Sie ist umso geringer, je näher die Beziehung zum Täter ist. Ganz selten wird der unmittelbare Partner oder Ex-Partner angezeigt. Diese stellen in Wahrheit aber einen relativ hohen Anteil an Tätern dar. Besonders dramatisch ist die Situation, wenn die Frau vom Mann beispielsweise finanziell abhängig ist. Dann steht sie vor der Wahl, in die Obdachlosigkeit abzugleiten oder die Gewalttätigkeiten weiterhin zu ertragen.

Was sind die Motive des Täters?

Da muss man unterscheiden. Bei der Vergewaltigung steht die Gewalt im Vordergrund. Es geht um die Erniedrigung des Opfers, um sich selber daran zu erhöhen. Die Täter sind Menschen mit Defiziten, die damit ihren Frust abreagieren wollen. Sie wollen sich mächtiger fühlen. Das sexuelle Motiv kommt nur ganz selten vor und ist vernachlässigbar.

Wie ist das bei Kindesmissbrauch?

Es gibt einen relativ geringen Anteil an pädophilen Tätern, die eine Art Liebesbeziehung suchen. Bei ihnen ist ein sexuelles Motiv vorhanden. Die Mehrzahl der Kindesmissbrauchstäter ist jedoch nicht pädophil. Diese Täter genießen es ebenfalls, Macht ausüben zu können und überlegen zu sein.

Und das Kind kommt ihnen als Opfer gerade gelegen?

Genau. Oft sind die Täter ja Stiefväter oder ältere Geschwister, die in gewalttätigen Familien leben. Sie nötigen dann die jüngeren Geschwister. Das sind überwiegend sexuell normal orientierte Menschen. Sie haben aber ein anderes Problem, das oft die Ursache in selbst erlittenen physischen oder psychischen Misshandlungen hat.

Gelingt die Resozialisierung von Sexualstraftätern?

Ich bin da immer vorsichtig. Oft wird argumentiert, dass Straftäter nur eine geringe Rückfallquote aufweisen. Das ist ein Problem. Denn wenn ich so eine geringe Anzeigebereitschaft der Opfer und Verurteilungsquote habe, ist es ja kein Wunder, dass Täter nicht noch einmal verurteilt werden. Dass aber andererseits Menschen, die in der Therapie kooperieren, eine geringere Rückfallquote haben, konnte bereits in Studien belegt werden.

Katharina Beclin ist Professorin am Institut für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Wien. Die Sexualkriminalität ist einer ihrer
Forschungsschwerpunkte. Beclin ist zudem Koordinatorin der Plattform gegen Ausbeutung und Menschenhandel.