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Gute Kriminalpolitik ist vernünftig und deshalb wirksam

Von Wolfgang Gratz

Recht

Populistische Strafverschärfungen haben schon bisher keinen politischen Erfolg gebracht. Sie werden ihn auch weiterhin nicht herbeiführen.


2008 ist etwas passiert, das aus Sicht der gegenwärtigen Regierungskoalition wohl eindeutig verwerflich ist. Im Rahmen eines "Haftentlastungspaketes" wurden die Voraussetzungen für bedingte Entlassungen aus der Strafhaft wesentlich erweitert. Die Auswirkungen dieser Reform auf Sexualstraftäter untersuchte Reinhard Eher, Leiter der Begutachtungs- und Evaluationsstelle für Gewalt- und Sexualstraftäter im Justizministerium. Das Ergebnis: Vor dem Hintergrund verbesserter Diagnose- und Prognoseverfahren sowie ausgebauter Therapiemaßnahmen und Kooperationen mit Nachbetreuungseinrichtungen wurden nach der Reform 58 Prozent der Sexualstraftäter bedingt entlassen im Vergleich zu 34 Prozent vor der Reform.

Die einschlägige Rückfälligkeit sank gleichzeitig von 5,9 Prozent auf 3,8 Prozent. So sieht wirksamer Opferschutz aus. Das Motto der Kriminalpolitischen Initiative: "Mehr Sicherheit durch weniger Haft" scheint seine Berechtigung zu haben.

Generalprävention hängtvon den Erfolgen der Polizei ab

Insgesamt ist es gesicherter Wissensbestand der Fachwissenschaften, dass die Kriminalitätsentwicklung durch Strafandrohungen - wenn überhaupt - nur sehr wenig beeinflusst werden kann. Die Generalprävention, die Wirkung auf die Allgemeinheit hängt zumindest überwiegend von der Entdeckungswahrscheinlichkeit, also den Erfolgen der Polizei ab.

Deutschland, Österreich und die Schweiz sind nicht nur vom Strafrechtssystem her durchaus vergleichbar. Die Inhaftierungsraten pro 100.000 der Bevölkerung sind jedoch unterschiedlich: Österreich liegt vorne (95), gefolgt von der Schweiz (84) und Deutschland (78). Ein genauerer Vergleich der Strafrechtspraxis durch Daniel Fink, Jörg Martin Jehle und Arno Pilgram ergab sehr unterschiedliche Sanktionspraktiken. So werden bei uns doppelt so viele unbedingte Freiheitsstrafen verhängt wie in Deutschland. Die Wiederverurteilungsrate ist jedoch ähnlich. Sie beträgt in Deutschland 36 Prozent, in der Schweiz 32 Prozent, in Österreich 38 Prozent. Die Autoren folgern: Keines der Justizsysteme kann umstandslos die kriminalpräventive Überlegenheit seiner Interventions- und Sanktionspolitik reklamieren; kriminalpräventiv sind alle als annähernd gleichwertig zu beurteilen.

Daraus kann man ableiten, mit Freiheitsstrafen möglichst zurückhaltend umzugehen, dem Zeitgeist folgend auch mit geringeren Kosten für den Steuerzahler argumentierend.

In Österreich ist hingegen ein Trend zu längeren Freiheitsstrafen feststellbar. So stieg der Anteil von Freiheitsstrafen, die länger als drei Jahre sind, in den vergangenen Jahren um ein Fünftel.

Gleichwohl haben wir eine lange Tradition von gut vorbereiteten Reformen wie zum Beispiel Außergerichtlicher Tatausgleich und andere Formen der Diversion oder Gemeinnützige Leistungen. Daraus entstand eine erfolgreiche Praxis, die von einer guten Zusammenarbeit zwischen Juristen und Sozialarbeitern sowie von wissenschaftlicher Begleitung getragen ist. Bereits in den vergangenen Jahren ist dieser Erfolgsweg einer vernünftigen Strafrechtspolitik durch Anlassgesetzgebung und legistische Hüftschüsse ein Stück ins Rutschen gekommen.

Dies veranlasste Repräsentanten der Key Role Player (Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Strafverteidiger, Strafvollzug, mit Opfern und Tätern arbeitende Organisationen, Wissenschaften) im Netzwerk Kriminalpolitik "Zehn Gebote guter Kriminalpolitik" auszuformulieren und vergangenen Sommer der Öffentlichkeit vorzustellen. Das erste Gebot lautet: "Gute Kriminalpolitik ist rationale Kriminalpolitik. Sie schützt Menschen und Rechtsgüter und vermittelt Verständnis für maßvolle und differenzierte Reaktionen."

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass das Vorhaben der Regierungskoalition, zwei Jahre nach den letzten Verschärfungen neuerliche Erhöhungen der Strafandrohungen bei Sexualstraftaten, aber auch anderen Delikten vorzunehmen, auf eine breite Ablehnungsfront von Experten und Wissenschaftlern stößt.

Sich bei der Begründung von Strafverschärfungen auf soziale Netzwerke zu berufen, wie es die Staatssekretärin im Innenministerium unternimmt, ist wegen der dort waltenden Eigendynamik bemerkenswert. Aus der Gruppendynamik weiß man, dass in nicht oder wenig strukturierten Großgruppen aggressiv-paranoide Tendenzen große Wirkungen entfalten.

Zudem wird eine von Ängsten und übergroßen Strafbedürfnissen getragene Stimmung durch Boulevardmedien befeuert. Beispiel: Im Herbst 2017 machte die Tageszeitung "Österreich" garniert mit einem emotionalisierenden Bild auf der Titelseite auf: "Schock-Report - Heuer schon 2422 Sex-Attacken". Im Blattinneren fand sich für aufmerksame Leser schließlich dann ein Satz, demzufolge es im Jahr zuvor 2675 solche Delikte gab.

Unser neuer Innenminister spielt auf einem ähnlichen Klavier, wenn er über die 2016 um 3,8 Prozent gestiegene Anzahl an Delikten spricht und hierbei Flüchtlinge hervorhebt, zugleich aber verschweigt, dass nach den vorliegenden Rohdaten die polizeilich registrierte Kriminalität 2017 um 5,2 Prozent auf rund 510.000 Delikte gesunken ist. Die Kriminalität ist somit auf dem niedrigsten Stand seit Einführung der gegenwärtigen Zählweise im Jahr 2000. 2004 wurde ein Höchststand von 643.000 Delikten erreicht.

Dass die RegierungÄngste schürt, ist neu

Die Ursachen des Auseinanderklaffens von Kriminalitätsentwicklung und Sicherheitsgefühl der Bevölkerung sind komplex. Eine Beteiligung von Boulevardmedien und rechter Opposition war schon bisher anzunehmen. Der Einstieg der Bundesregierung in das Schüren von Kriminalitätsängsten ist neu. Er ist schon deshalb abzulehnen, weil Ängste, Opfer einer Straftat zu werden, die Lebensqualität deutlich beeinträchtigen können. Es gibt durchaus Gründe, Befürchtungen zu haben. Verantwortlichkeit bedeutet gerade deshalb, die Realität getreu und nicht dramatisiert darzustellen.

Populistische Strafverschärfungen haben schon bisher keinen politischen Erfolg gebracht. Sie werden ihn auch weiterhin nicht herbeiführen.

Ein Einschwenken auf eine vernünftige Kriminalpolitik erscheint daher noch möglich. Machen wir dies wahrscheinlicher, indem wir geduldig Fakten und rationale Argumente kommunizieren.

Zum Autor

Wolfgang
Gratz

ist Soziologe und Jurist. Er habilitiert in Kriminologie und empirischer Verwaltungsforschung und ist am Netzwerk Kriminalpolitik beteiligt. Zudem ist er Lehrender an der Universität Wien und an Fachhochschulen, Supervisor und Organisationsberater. privat