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"Werte kann man nicht programmieren"

Von Petra Tempfer

Recht

Legal Tech steckt noch in den Kinderschuhen - aber es gibt kein Zurück.


Wien. Es gibt etwa 6000 Anwälte in Österreich, und fast alle Kanzleien verwenden ein Anwaltsprogramm. Darüber hinausgehende Digitalisierungswerkzeuge nutzen vermutlich ein Drittel, künstliche Intelligenz oder komplexes Machine Learning (Wissenserwerb mit Hilfe selbstlernender Algorithmen, Anm.) nur zwei Handvoll, sagt Juristin Sophie Martinetz. Gemeinsam mit Sabine Schuh, Kammeramtsdirektorin der Rechtsanwaltskammer Wien, erzählt sie im Interview mit der "Wiener Zeitung", inwieweit das Thema Legal Tech noch in den Kinderschuhen steckt - dass es aber auch keinen Weg zurück mehr gibt.

"Wiener Zeitung": In welchen speziellen Bereichen hat sich Legal Tech bereits etabliert?Sophie Martinetz:Es geht sicher vom Großen ins Kleine. Also im Bereich von großen Due Diligences (Prüfung von Chancen und Risiken bei der Übernahme eines Unternehmens, Anm.), vor allem aber bei internen Abläufen und Prozessen kommt Legal Tech schon zum Einsatz, um schneller und effizienter in der Kanzlei zu sein.

Sabine Schuh: Bei der Recherche, Prozessoptimierungen, elektronischen Aktführung.

Falls Routinetätigkeiten wie diese vom Computer übernommen werden - wird dann die Arbeit der Konzipienten überflüssig?Martinetz: Nein, jeder fängt einmal an. Aber früher hat der Junganwalt ja auch noch zu Gericht gehen müssen und eine Grundbuchseite abgeschrieben oder Tage im Datenraum als lebendige Abschreib- und Diktiermaschine verbracht. Und heute ist das Aufgabengebiet ein ganz anderes und interessant. Es fallen generell Aufgaben weg, dafür entstehen neue: das Wissen, wie IT-Programme und Legal Tech anzuwenden sind. Wie das Wissen verwaltet wird. Wie Prozesse und Abläufe optimiert werden. Es wird sich etwas ändern, aber da bleibt genug Zeit, um mitzuwachsen.

Schuh:Eine solide Ausbildung in den Informations- und Kommunikationstechnologien ist wie in vielen anderen Bereichen der Wirtschaft auch beim Anwaltsberuf nicht mehr wegzudenken. Ganz wichtig ist, dass zukünftige Generationen im Bereich Media-Literacy geschult werden: Das Unterscheiden seriöser Recherche-Quellen von unseriösen wird jedenfalls eine Basisfähigkeit sein müssen.

Wie reagieren Hochschulen in der Juristenausbildung auf Legal Tech?Schuh: Ohne das nun genau recherchiert zu haben, denke ich, dass es hier in allen Bereichen (bereits in den Grundschulen) einen enormen Aufholbedarf gibt, um mit den Herausforderungen des digitalen Fortschrittes mithalten zu können und von der Technik nicht diktiert zu werden, sondern von dieser unterstützt zu werden.

In welchen konkreten Bereichen wird sich die Digitalisierung kaum durchsetzen, weil Menschen dahinterstecken sollten?Schuh:Klar im Bereich der Klientenakquise und in jenen Bereichen, in denen es um Aufbau von Vertrauen geht. Wenn ich ein rechtliches Problem habe, das mich in meiner Existenz gefährden könnte, dann will ich im Vorfeld den Menschen, der mir in dieser Situation beisteht und mich vor Gericht vertritt, persönlich kennenlernen.

Mit welchen Kosten oder Kostenersparnissen kann man rechnen?Martinetz:Die Digitalisierung ist derzeit eher investitionsintensiv. Sie führt zu einer Qualitätssteigerung. Sie macht kleinere Ansprüche wie bei Flugverspätungen überhaupt erst für den Anwalt interessant, da sich diese nur mit automatisierten Abläufen auszahlen. Auch große Fälle, die riesige Datenmengen beinhalten, können überhaupt erst durchgeführt werden. Zuerst braucht man aber einen Plan, was man will, also eine Strategie, und dann kann man dazu die passenden Tools finden.

Schuh: Es ist jedenfalls wichtig, sich dem Trend nicht zu verschließen und gerade als Standesvertretung zu versuchen, mitzugestalten, bevor andere Berufsgruppen und Institutionen den Weg vorgeben. Denn dann sehe ich persönlich schon die Gefahr, dass Rechtsanwälte hier von außen diktiert werden.

Was bedeutet das für den Klienten?Schuh: Für den Klienten kann es ebenso wie für den Anbieter Vor- und Nachteile geben. Der Vorteil liegt sicher darin, dass man vielleicht einfacher etwa durch Bewertungsportale einen Rechtsanwalt aussucht. Der Nachteil kann sein, dass man als Klient manche Bewertungen nicht wirklich einschätzen kann, ob diese auch seriös sind.

Wie sieht die Situation im Ausland aus - wo ist man schon weiter?Martinetz: Alle kochen nur mit Wasser. Aber in Europa generell ist das Thema, dass es viele kleine Jurisdiktionen und viele Sprachen gibt. Das bedeutet, dass es weniger Datenmengen gibt als zum Beispiel in den USA. Das ist für uns ein Wettbewerbsnachteil. Andererseits schützt diese Kleinteiligkeit auch den Rechtsbereich. Die Herausforderung ist, passende Lösungen für echte Probleme der Anwaltsbranche zu schaffen.

Werden Urteile bereits durch das Vergleichen von Urteilen ähnlicher Fälle in der Vergangenheit basierend auf Datensätzen gefällt?Martinetz:Urteile noch nicht. Gerade bei Datensätzen ist es natürlich wichtig, nicht einem "unconscious bias" (unbewusste Verzerrungen, Anm.) aufzusitzen. Das Zustandekommen von Datensätzen muss auch kritisch hinterfragt werden, etwa beim Strafrecht.

Wer ist gewissenhafter: Mensch oder Maschine?Martinetz:Eine Programmierung kann derzeit nur so gewissenhaft sein, wie es der Mensch ist, der sie vornimmt. Der Vorteil bei der Maschine ist, sie hält sich strikt an die Regeln. Der Nachteil der Maschine ist, sie hält sich strikt an die Regeln. Aber das Leben findet oft zwischen den Regeln statt.

Wer ist gerechter?Schuh: Eine philosophische Frage, die ich gerne mit einem leicht abgeänderten Zitat von Viktor Frankl kontern würde: Werte kann man nicht lehren (und daher vermutlich auch nicht programmieren), sondern nur vorleben. Die Gerechtigkeit und die Freiheit haben viel miteinander zu tun. Es liegt an uns, ja, es ist unsere Verantwortung als Menschen, unsere Werte rechtzeitig zu definieren, damit die Welt von morgen für alle lebenswert ist.

Am 7. November 2018 ab 8.30 Uhr findet im Park Hyatt Vienna die zweite Future-Law-Konferenz statt.
www.legaltech.future-law.at

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