Komplexe Musik, ganz besonders jene der frühen polyphonen Vokalkunst, eröffnet beim Hören eine dritte Dimension. Neben Tonhöhe und -dauer spannt der Zusammenklang der einzelnen Stimmen eine räumliche Dimension auf. Einer Kathedrale gleich markieren die Stimmen einen plastischen Klangraum, deren Obertonketten an die Unendlichkeit anzuknüpfen scheinen.

Die Salzburger Festspiele präsentierten am Wochenende ein Projekt, das es sich zum Ziel gesetzt hat, genau jene dritte, räumliche Dimension von Musik sichtbar zu machen, ja gar Körper werden zu lassen. Regisseur Peter Sellars - er ist der Festspielredner dieses Sommers und inszeniert kommende Woche Mozarts "Idomeneo" - hat dafür in der Kollegienkirche zu Orlando di Lassos Vokalwerk "Lagrime di San Pietro" eine szenische Einrichtung in Form einer Chor-Choreografie erarbeitet. Je drei Sänger des Los Angeles Master Corale übersetzen dabei eine der sieben Stimmen in Körpersprache. Ganz nah am Text wird dadurch die komplex verschränkte Struktur der Partitur sichtbar. Gerade in den fugisch angelegten Passagen ergibt das beeindruckende Effekte. Die ob der intensiven Choreografie vokal beeindruckend agierenden Sängerinnen und Sänger wischen imaginäre Tränen weg, strecken die Hände flehend gen Himmel oder auf die Brust, sinken zu Boden und verleihen ihrem Gesang damit Kontur und Körper. Das macht auch etwas mit der Musik: Sie wird effektvoller, expressiver und konturenreicher.

Unter der feinen Leitung von Grant Gershon zeigte das ausgiebig bejubelte Projekt aber auch den Preis für die Plastizität dieses geistlichen Meisterwerkes: Berückend und berührend an den menschlichen Körper rückgebunden erhält das Werk gleichsam irdische Fesseln, die es nicht mehr so leichtfüßig emporschweben lassen in die transzendenten Sphären. Diese dennoch sehr gelungene späte Psychologisierung von Lassos letztem Werk macht es weniger abstrakt und unmittelbarer zugänglich - banalisiert es aber auch ein Stück weit.

Klassisch berückend

Ganz im klassischen Konzertsetting, aber dafür musikalisch nicht weniger dicht, geriet das Kammerkonzert am Sonntag im Mozarteum. Der Chor des Bayerischen Rundfunks widmete sich im ersten Teil Werken von Arvo Pärt und Alfred Schnittke, die um Gottes Gnade, Güte und Erbarmen kreisten. Sowohl bei Schnittkes "Drei geistliche Gesänge" als auch Pärts "Magnifikat" bewies der Chor unter der Leitung von Howard Arman seine feine Meisterschaft. Nach Pärts sehr atmosphärischem "Miserere" für Ensemble und Soli nahm der aus Estland stammende 83-jährige Komponist die ausgiebigen Ovationen und eine Zugabe persönlich entgegen.

Mit Dmitri Schostakowitschs "Sonate für Viola und Klavier" (op. 147) schließlich führte das erste Wochenende an seinen Beginn. Mit dem letzten vollendeten Werk des Komponisten schlossen Salzburg-Intendant Markus Hinterhäuser am Klavier und Bratschist Antoine Tamestit den Kreis dieses ersten Wochenendes und damit an jene kargen wie intensiven Klangsphären an, in die schon Orlando die Lasso geführt hatte. Ein lohnend experimentierfreudiger wie intensiver Auftakt für einen wohl ebensolchen Salzburger Festspielsommer.