Klare Sicht auf Probleme, fordert Konrad Paul Liessmann ein. - © Robert Newald
Klare Sicht auf Probleme, fordert Konrad Paul Liessmann ein. - © Robert Newald

"Wiener Zeitung": In Großbritannien siegen die Brexit-Befürworter, in den USA könnte Donald Trump bald Präsident sein, und in Österreich hat der FPÖ-Bundespräsidentschaftskandidat bei der Wahlwiederholung Chancen. Schlägt in schwierigen Zeiten die Stunde der Welterklärer? Beobachten wir einen Siegeszug des Rechtspopulismus?

Konrad Paul Liessmann: Nun,ich fühle mich keineswegs als Welterklärer, das kann jeder Kommentator einer österreichischen Tageszeitung besser. Wenn man jedoch die von Ihnen genannten völlig unterschiedlichen Phänomene unter dem Begriff "Rechtspopulismus" versammeln wollte, wäre ich überaus skeptisch. Der Terminus hätte dann keinerlei analytische Kraft mehr. Es handelte sich allein um eine Art Verlegenheitsbegriff, der alles Mögliche bezeichnete, all das, was einem aus unterschiedlichen Gründen nicht passt. Wenn man den Blick für jene Differenzen verliert, dass sich hinter den genannten Bewegungen durchaus auch berechtigte oder zumindest verständliche Anliegen verbergen können, wenn man vergisst, dass sich in einer Demokratie Mehrheiten bilden können, die Auffassungen vertreten, die den eigenen entgegenstehen, erklärt man die Welt nicht, indem man schreckenserregt "Rechtspopulismus" schreit, sondern man deckt die Realität mit einem inflationär gebrauchten Wort zu. Wir leben in Zeiten des Umbruchs. Was kürzlich undenkbar gewesen wäre, ist mit einem Mal politische Realität. Was wir jetzt benötigen, ist der klare Blick auf die Probleme.

Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer mehr, das Zusammenprallen zwischen Modernisierungsgewinnern und -verlierern ist längst Alltag.

Wie ist denn diese sogenannte Spaltung innerhalb der Gesellschaft zustande gekommen? Wer trägt die Verantwortung dafür, dass weite Teile des kontinentalen Mittelstands Abstiegsängste entwickelt haben, Arbeitsplätze liquidiert wurden, sich für viele Menschen die Armutsfalle aufgetan hat? Doch nicht die Rechtspopulisten! Die Verantwortung dafür tragen jene ökonomischen und politischen Eliten, die gegenwärtig wortreich klagen, dass die Gesellschaft gespalten sei.

Welche Rolle kommen Kunst und Kultur in bewegten Zeiten zu?

Die Hoffnungen, die man in Kunst und Kultur setzt, sind groß. Die Rolle jedoch, die Kunst in der Gesellschaft spielt, ist nicht mehr eindeutig bestimmbar. Es gibt zwar noch die Tradition der Avantgarden, die gesellschaftskritisch engagiert sind - ein alternatives Gesellschaftsmodell lässt sich daraus aber nicht mehr ableiten. Wir glauben nicht mehr an die 68er-Utopien, die etwa die Mühl-Kommune zu leben suchte, die übrigens auf erschreckende Weise scheiterte. Andererseits gibt es gerade in der bildenden Kunst eine Entwicklung, die heftig umstritten ist, und die der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich als "Siegerkunst" apostrophiert: Künstler fertigen demnach Auftragswerke für die "Sieger" der Globalisierung, für jene happy few, die ohnehin zwei Drittel des gesamten Weltvermögens besitzen und ihre privaten Räume mit gigantomanischer und sündteurer "Siegerkunst" ausstatten. Von Künstlern wie Damien Hirst und Jeff Koons ist insofern kein relevanter Beitrag zu einer gerechteren Gesellschaft zu erwarten. Was aber nicht heißt, dass es sich bei der "Siegerkunst" nicht auch um ästhetisch interessante und innovative Erzeugnisse handeln kann.

Wie ist das zu verstehen?

Die Kunstwerke der Renaissance, die wir bis heute bewundern, verdanken sich Aufträgen von Päpsten, Kriegsherren, Bankiers. Michelangelo malte die Sixtinische Kapelle nicht für das Volk, sondern für eine exklusive klerikale Schicht. Anders verhält es sich mit Literatur...

Und zwar wie?

Einem bildenden Künstler mag es genügen, wenn zwei schwerreiche Sammler sich um ihn bemühen. Schriftsteller dagegen können nicht von zwei Lesern leben, sie brauchen Publikum. Darin mag man ein Moment von Demokratisierung sehen, das begründen könnte, weshalb sich viele Autoren auch politisch engagieren. Über engagierte Literatur wird seit Langem debattiert, siehe die Kontroversen zwischen Sartre und Adorno. Auftragskunst kann aus widerwärtigen Motiven entstehen - und trotzdem herausragend sein. Engagierte Literatur kann aus den edelsten Motiven heraus geschrieben werden - und dennoch nur Polit-Kitsch sein.

Bewähren sich wenigstens die Kunstformen Theater und Oper im Zeitalter digitaler Verfügbarkeit?

Die analogen Kunstformen werden nicht aussterben - dies beweist die Mediengeschichte -, aber sie werden ihre Bedeutung verändern. Wenn wir ins Theater oder in die Oper gehen, einem Konzert beiwohnen, konzentriert im Kino sitzen, uns mit einem Buch zurückziehen: All das erfordert ein anderes Rezeptionsverhalten als unsere Handhabung der medialen Umwelten, in denen wir uns häufig bewegen. Die Analogwelt mag anstrengender sein, aber sie ist auch oft beglückender. Sich drei Stunden lang intensiv einer Theateraufführung zu widmen, ohne einen einzigen Anruf, ohne eine WhatsApp-Nachricht? Wie erfüllend!

Bei Nietzsche heißt es, Theater sei das "Haschisch-Rauchen und Betel-Kauen der Europäer".