Dass irgendwann, wie schon Wagner in Bayreuth vor Jahrzehnten, auch das von Hofmannsthal und Max Reinhardt 1911 für ein Berliner Zirkuszelt wiedererweckte "Jedermann"-Morality-Play aus dem Artenschutz fällt, war vorauszusehen. Der Antritt Markus Hinterhäusers als Intendant förderte den Traditionsbruch. Regengüsse vertrieben Michael Sturmingers Neuinszenierung am Premierenabend ins Große Festspielhaus. Dort fehlt die Spannung zwischen religiösem Schein und machtvollem steinernen Sein. Und verstärkt die eingebaute Elektrik viele Töne falsch.
Heutige Mainstream-Bühnenästhetik samt Neonlichtfäden und Videoschriften lösen die liebgewordene Altertümelei ab. Aber was gewinnt sie hinzu? Neues, Überraschendes allemal. Erstmals einen Bühnenvorhang. Davor lebensnäheres Spektakel. Nie zuvor kamen in Salzburg frömmelnde Gaukler rascher und bunter zur Sache. Nach Glockenklang, Blechgebläse (Musiken: Mathias Rüegg) und dem "Nun habet allsamt Achtung Leut" einer Untotenmaske (Peter Lohmeyer) baut sich ein gar weltlich Bild auf. Überbleibsel einer Partynacht, flüchtige Häschen, leere Champagnerflaschen. Mit einer Trompete bläst sich der Hausherr, im Morgenmantel im Bett, einen Zapfenstreich. Fundamente Europas liegen auf dem Boden wie vergessen ausgestreut: ein altgriechischer Bronzetorso, ein hellenistisches Kapitell, eine romanische Säulenbasis, drei mittelalterliche Kirchturmglocken. Doch kurz gelebt und in christlicher Zuversicht gestorben wird in der Gegenwart. Die Kostüme (Ausstattung Renate Martin, Andreas Donhauser) überreich extravagant, Pastellfarben, linea italiana. Altdeutsches ist den Knittelversen ausgetrieben: Statt einen Beutel Gold versagt Jedermann seinem verarmten Nachbarn ein Bündel Scheine.
Sauna oder Puff?
Generationen von "Jedermann"-Schauern fragten sich seit der Uraufführung: Warum zwingt Gott den reichen Mann, im Original einen Vierzigjährigen, vorzeitig zur Lebensschlussbilanz? Wegen seiner sündigen Vorlust auf ein dralles Weibsbild? In Michael Sturmingers Neufassung scheint der Akt längst vollzogen. Tobias Moretti räkelt sich mit Stefanie Reinsperger (schwarz-glattes Minikleid) nur mehr gelangweilt im Bett. Dieser Jedermann hat freilich im Sinn, den Dom – ja, den hinter der Bühne! – in eine "Badestube" mit einem "Hortus apertus" zu verwandeln. Sauna oder Puff? Da seien Gott und der Denkmalschutz vor!
Ungeduldiger als sonst warten Stammgäste heuer auf Jedermanns Bankett. Denn dem Armen Nachbarn (Roland Renner) und dem Schuldknechtspaar (Fritz Egger, Eva Herzig) dämpft papierne Kapitalismuskritik das Bühnenleben. Der Auftritt der großen Edith Clever als Mutter bleibt fein-gesellschaftlich. An der Tafel fehlt die Turtelei des Liebespaars. Die Buhlschaft tanzt ekstatisch mit dem Dünnen Vetter. Ein Bal macabre. Gott kündigt sein Gericht in einer Laufbandschrift an. Jetzt beginnt die große Panikstunde Morettis. Der Tod, das Femininum la morte, enthüllt sich ihm im Conchita-Kleid. Totales Chaos, die Plattform mit den Tischen kippt. Mann und Requisiten stürzen ab in den Bühnengraben. Der Gute Gesell (Hanno Koffler) gibt keinen Halt. Moretti rast, bläst seinen Eigensinn auf im Vertrauen auf Macht und Geld, knickt ein. Mit dem Mammon, einem Goldzottelmonster (Christoph Franken), spielt er fangen.
Sterben im Spitalsbett
Zum Sterben endet er, wie schon beinahe jedermann, im Spitalsbett, an der Wand das Herzschlagdiagramm. Zwei Vetter (Hannes Flaschberger, Stephan Kreiss) schauen noch vorbei. Hier bekommt die von Hofmannsthal nicht verwöhnte Buhlin ein wenig Text geschenkt: "Auch ich werde dich verlassen", sagt die sinnlich-kühle Reinsperger. Palimpsesten gleich erscheinen Schriften (ewige Gesetze?) auf der Vidiwall: arabische, hebräische, griechische Buchstaben. Nicht Ärzte, nur noch Allegorien helfen dem Patienten hinüber: die Guten Werke in Person eines zuerst bresthaften, dann springlebendigen Mädchens (Mavie Hörbiger) und der Glaube (Johannes Silberschneider) als Kuttenkaplan. Der hat noch den komischen Volksteufel (auch Koffler) abzuwehren. Listig macht er ihn mit einem Kreuzlein rasend. Aus drei uralten Götzenbildern zischt kitschig-rosa Dampf. Ein Genieblitz am Schluss: Jedermann begrüßt den Tod mit einem Kuss. Wer küsst wen tot? Tod, wo ist dein Stachel?Die Mehrheit des Publikums erhob sich begeistert, als das Ensemble sich verbeugte. Im ungebremsten Tobias Moretti fand es einen Liebling. Auch Stefanie Reinsperger bleibt im Gedächtnis, wie sie, im rosa Tüllkleid wie eine Rokoko-Kurtisane, unbewegt über Jedermanns Verzweiflungsausbrüche hinwegschaut. Ein Jedermannsopfer, lebendig davongekommen.