Der Mathematiker und Zukunftsforscher John Casti hat in seinem Buch: "X-Events. Der plötzliche Kollaps von allem" bereits 2012 vor einer Pandemie gewarnt. Der gebürtige Amerikaner forschte jahrelang am Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg und lebt seit Jahrzehnten in Wien.
"Wiener Zeitung": Was hat Sie an der Corona-Krise bisher am meisten überrascht?
John Casti: Die Reaktion der Finanzmärkte. Die Märkte waren schon vor der Krise überhitzt. Für eine große Zahl von Marktteilnehmern war das Coronavirus eine gute Ausrede, überteuerte Aktien schnell loszuwerden. Der Kursgraph zittert jetzt hypernervös auf und ab. Die Märkte sind noch nicht an ihrem Tiefpunkt angelangt.

Sind Sie schockiert über den geringen Pandemie-Vorbereitungsgrad Europas und der USA? Die Experten der Weltgesundheitsorganisation haben seit vielen Jahrzehnten davor gewarnt, dass genau so etwas wie eine Corona-Virus-Pandemie eines Tages auf uns zukommen könnte.
Nein. Menschen sind von Natur aus recht optimistisch - vielleicht zu optimistisch. Menschen glauben gerne, dass schon alles gut gehen wird. Dann bricht eine Katastrophe über die Menschheit herein. Die Antwort: Das werden wir schon irgendwie schaffen. Und das werden wir auch. Aber Menschen bereiten sich auf Katastrophen oder negative Ereignisse tatsächlich nur unzureichend vor. Aber was soll ich sagen: Katastrophen wie etwa die Coronavirus-Pandemie passieren und der Natur ist es herzlich egal, ob die Menschheit jetzt vorbereitet ist oder nicht.
Sie haben einmal gesagt, Sie seien ein optimistischer Apokalyptiker.
Beides stimmt. Optimistisch. Und Apokalyptiker.
In Asien scheint man erfolgreicher bei der Pandemieabwehr als in Europa oder in den USA. Warum?
Länder, in denen die Gemeinschaft mehr im Fokus steht, tun sich jetzt viel leichter als Gesellschaften, in denen der Individualismus regiert. Ich würde hoffen, dass Post-Corona eine gigantische Umstrukturierung des westlichen Lebensstils und ein Umdenken beim globalisierten Kapitalismus herauskommt.
Ihr Freund Matthias Horx hat in einem Essay ein recht optimistisches Bild der Zukunft gezeichnet. Er meint, dass wir, wenn wir im Herbst auf diese Krise zurückblicken, feststellen werden, dass sich aufgrund der Corona-Krise viele Dinge zum Positiven geändert haben werden. Zu optimistisch?
Optimismus ist relativ. Die Menschen werden lernen, dass es Alternativen gibt. Und diese Alternativen sind auch nicht die schlechtesten. Ob nun aber eine Zeit der großen Umstrukturierung der Gesellschaft vor uns liegt, ist eine andere Frage. So etwas dauert Jahrzehnte und ist nicht in einem Jahr erledigt. Auch durch Corona wird die Welt nicht über Nacht eine andere.
Sie haben schon vor der Corona-Pandemie über einen De-Globalisierungs-Trend gesprochen. Erleben wir das gerade?
Dass diese Verlangsamung des Globalisierungsprozesses durch eine Pandemie herbeigeführt werden würde, hätte ich nicht gedacht. Nun beschleunigt die Pandemie diesen Prozess definitiv. Einige Schwachpunkte der Globalisierung fallen uns jetzt ins Auge. Die unglaubliche Vernetztheit und wechselseitige Abhängigkeit der Weltwirtschaft erweist sich als enorme Schwachstelle. Solange alles prima lief, war das eine Stärke. Aber wenn auch nur ein Element verrücktspielt, droht gleich der Kollaps des gesamten Systems. Ich glaube, wenn das alles vorbei ist, werden viele Akteure zögern, ob sie zurück zum System der Hyperglobalisierung wollen. Jeden Produktionsschritt in einem anderen Land anzusiedeln, ist schlicht Unfug.
In der Situation, in der wir jetzt sind, würde Kooperation wirklich helfen. Die Wissenschaft tut das. Die heutige Politikergeneration scheint aber weitgehend kooperationsunfähig. Warum?
Die Wissenschaft ist ein weltweites Projekt, in dem Forscherinnen und Forscher ihr Wissen teilen. Ein Horten von Wissen - so als wäre man in einem Nullsummenspiel - nützt nichts. Im Kapitalismus gilt: Ich nehme mir, was mir zusteht und so viel ich kriegen kann. Teilen ist im kapitalistischen Modell nicht vorgesehen. In der Wissenschaft geht es um Wissen, im Kapitalismus um Geld, in der Politik um Macht. Wissen zu teilen, bringt mehr Wissen. Aber wer teilt schon gerne Geld oder Macht?
Wie kann man Systeme so aufbauen, dass sie resilient sind?
Damit habe ich mich in meinem Buch "X-Events. Der plötzliche Kollaps von allem" beschäftigt. Man muss akzeptieren, dass es regelmäßig zu massiven Disruptionen oder Krisen kommen wird. Daraus folgt, dass man die Systeme so aufbauen muss, dass solche Crashs so wenig Schaden anrichten wie nur möglich. Für das Individuum gilt: Man muss erstens in der Lage sein, den Crash zu überleben. Wie sagte Nietzsche: "Was mich nicht umbringt, macht mich stärker." Nach dem Crash blickt man um sich und sieht die neue Ordnung. Dann muss man sich fragen: Wie kann ich in dieser neuen Welt, mit der ich nicht vertraut bin, bestehen? Man muss also möglichst anpassungsfähig sein. Je früher man die Nostalgie für die alte, untergegangene Weltordnung aufgibt, desto besser. Diese Weltordnung wird nicht zurückkehren. Die ist futsch. Man muss nach dem Crash eine neue Ordnung auf den Trümmern der alten errichten.
Wenn Sie die österreichische Bundesregierung beraten würden, die Europäische Kommission, oder auch einfach Bürgerinnen und Bürger dieses Landes: Was würden Sie diesen Menschen raten, wie sollen sie mit der Situation umgehen?
Beginnen wir mit den Bürgerinnen und Bürgern: Sie sollten sich die Frage stellen, welche Mittel und Möglichkeiten sie haben, in dieser neuen Welt zu bestehen. Wie können Sie flexibel auf die neuen Herausforderungen reagieren? Und das gilt eigentlich genauso für jedes Unternehmen, aber auch für jeden Staat. Welche Instrumente haben sie jetzt, diese vielleicht dann auf andere Art und Weise nützen können? Es gibt so viele Unternehmen, die sich neu erfunden haben, Apple, IBM, Microsoft, Kentucky Fried Chicken, Netflix. Wer sich jetzt nicht rasch an die im Entstehen begriffene neue Welt anpasst, wird untergehen.
Ist eigentlich die Zeit von Krisen auch die Zeit großer Ideen und Pläne?
Ja. Die alten Strukturen werden gerade zerstört. Komplexe Systeme kann man nur sehr schwer von innen reformieren und umbauen. Nun aber kollabieren viele Elemente dieses Systems und es entstehen rasch Nischen, die gefüllt werden müssen.
Hat uns das Coronavirus die Fähigkeit zurückgegeben, im großen Stil zu denken?
Unbedingt. Ein Vergleich: Das erinnert ein wenig an den Asteroiden, der das Aussterben der Dinosaurier verursacht hat, nachdem er vor 66 Millionen Jahren bei der Yucatan-Halbinsel eingeschlagen ist. Dieser apokalyptische X-Event hat das Weltklima dramatisch verändert. Plötzlich entstanden überall neue ökologische Nischen. Wir beide würden übrigens hier gar nicht sitzen, wenn dieser Asteroid die Erde verfehlt hätte, denn dann hätten sich die Säugetiere vielleicht nie so entwickelt. Das Spannende ist, nach einer Katastrophe verändert sich das System und nach einer Weile braucht auch dieses neue System wieder eine Veränderung. So bleibt es spannend im Universum. Wir wissen: Die einzige Konstante im Leben ist Veränderung. Man muss immer bereit sein für Veränderung.
Zurück zu Ihrem Selbstbild des optimistischen Apokalyptikers. Wie sieht es derzeit aus: Mehr Optimismus oder mehr Apokalypse?
Ich bin optimistisch. Nach dieser Pandemie werden wir grundlegende Änderungen erleben. So eine Apokalypse ist natürlich schrecklich. Tausende, hunderttausende, vielleicht Millionen werden durch das Sars-CoV-2-Virus ihr Leben verlieren. Wenn wir es da nicht schaffen, danach zumindest positive Veränderungen herbeizuführen, dann war diese Apokalypse für nichts! Das darf nicht sein.
Also zuerst die Apokalypse und dann der Optimismus.
Und dann wieder die Apokalypse. Und danach wieder Optimismus.