"Wiener Zeitung: Seit einigen Wochen tauchen in Sozialen Medien zahlreiche Fotos von selbst gebackenen Kuchen auf. Essen wir im Homeoffice öfter Torte?
Dominic Flammer: Wir essen mehr. Die Quarantäne war die üppigste Zeit. In den letzten beiden Monaten haben die Leute sicher mehr Seelennahrung gegessen. Backen, vor allem das Backen von Kuchen, ist auch eine Beschäftigung mit Kindern, die zu Hause sind. Es ist eine beruhigende Tätigkeit im Homeoffice-Alltag.
Stiftet Backen Sinn, wenn sonst nicht viel auf dem Programm steht?
Backen gibt einen Rhythmus vor. Die Leute kehren zurück zu einem traditionellen Familienablauf mit Frühstück, Mittagessen und Abendessen, anstatt in der Früh schnell ein Müsli zu verzehren und mittags nebenbei ein Sandwich zu essen. Das gibt dem Alltag in dem kleinen Raum, in dem man sich zu Hause bewegt, Gestalt.
Seelennahrung oder im Englischen "comfort food" sind Lebensmittel, die für jemanden einen nostalgischen oder sentimentalen Wert haben und die sich durch einen hohen Gehalt an Kalorien und Kohlenhydraten oder eine einfache Zubereitung auszeichnen können. Essen wir in Corona-Zeiten mehr Kohlehydrate?
Wir essen mehr Gerichte, die uns glücklich machen. Außer Haus hat Junkfood oft die Raffinesse, zugleich Seelennahrung zu sein, weil es knusprig und fettig ist und eine Geschmackskombination von Säure, Süße und Salzigkeit enthält. Ohne Pizza, Hamburger oder Döner müssen wir selber Dinge kochen, die uns dieses Gefühl geben. Und da kehren wir zurück zu den Rezepten der Kindheit. Faschierter Braten, Kartoffelgratin oder Sauce mit Reis sind einfache Gerichte, die wir kennen, die, mit Liebe und Sorgfalt zubereitet, glücklich machen. Kochen ist Valium fürs Volk.
Valium gegen die Sorgen?
Sicher ist der Anteil jener, die mit dem Essen Sorgen verdrängen, gestiegen. Ich meinte jedoch Valium zur Strukturierung des Alltags. Wir sind es gewohnt, uns auf quadratkilometergroßen Geländen zu tummeln. Plötzlich sind wir auf 60 oder 70 Quadratmeter zurückgeworfen, die gleichzeitig als Dauer-Kinderspielplatz, Homeoffice und Schulstätte dienen müssen. Wir müssen eine Struktur reinbringen, um in diesem Rahmen leben zu können und nicht im Chaos zu versinken.
Und die vielen Kuchen?
Wir tummeln uns ja nicht so oft in den Wohnungen anderer Leute. Was wir derzeit davon sehen, ist nur das, was sie bei Videokonferenzen herzeigen oder posten - die Spitze des Eisbergs also. Aussagen, dass insgesamt mehr gebacken wird, sind daher mit Vorsicht zu genießen. Vielmehr ist es die kommunikative Elite, die herzeigt, was sie macht.
Seelennahrung im Alpenraum sind Käsespätzle, Kartoffelgerichte, Braten, Knödel. Macht Corona dick?
Ich denke schon, dass uns die Corona-Zeit feister und dicker macht. Aber es ist vielschichtig, denn es wird auch mehr Gemüse gekauft und es fahren auch mehr Menschen mit dem Fahrrad. Zugleich wird aber bedeutend mehrgegessen und da ist es einfacher, die kalorienreichen Speisen der Großmütter nachzukochen, als irgendwelche mediterranen Kunststücke aus dem Kochbuch zu vollbringen. Ein Käse ist schnell geschmolzen. Gerichte mit geschmolzenen Käse stehen hochim Kurs, weil dieser ähnlich süchtig macht wie Zucker. Daher gibt es Käsespätzle, wenn keine Fertigpizza erhältlich ist. Auch der Alkoholkonsum ist gestiegen. Man startet um 16 Uhr mit dem Apero und trinkt im Homeoffice ein Mittagsachterl - alles zusätzliche Kalorien.
Lösen Krisen Essstörungen aus?
Essstörungen sind eine Reaktion auf Sorgen und wir haben Leute mit schweren existenziellen Sorgen. Dass das gewisse Süchte und Essstörungen potenziert, liegt auf der Hand. Noch ist die Krisenzeit jedoch kurz - wir sprechen von ein paar Wochen. Allerdings haben die Generationen der vergangenen 60 Jahre keine Erfahrung im Umgang mit Krisen, weil sie die geografisch und historisch privilegiertesten Generationen der Menschheit sind. Ihre Vorfahren erlebten den Ersten Weltkrieg, die Spanische Grippe, die große Wirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg. Für uns ist die Corona-Krise die erste, mit der wir konfrontiert sind. Wenn daraus Störungen entstehen, hängt das auch mit Verwöhntheit zusammen.

Warum hamstern wir Klopapier?
Das Hamstern beherrschen wir nicht mehr. Im Zweiten Weltkrieg wussten die Menschen, wie man Vorräte anlegt. Aber zu Beginn der Corona-Krise war in der Schweiz die Frischhefe ausverkauft. Anders als Trockenhefe hält sie nur eine Woche. Deswegen die Kuchen-Bilder - die Leute haben gemerkt: Ui, jetzt müssen wir unsere Hefe verbrauchen.
Sehen Sie auch nachhaltigere Konsequenzen?
Die Corona-Krise beschleunigt eine Gegenreaktion auf die Globalisierung. Regionale Produkte und Direktvermarktung in der Landwirtschaft boomen. Der Binnentourismus wird dazu führen, dass man Biolandbau stärker nutzt. Den Menschen wird bewusst, womit sie kochen. Der Trend zur Regionalität verstärkt sich mit der Rückbesinnung auf das, was uns vertraut ist.