Welches Stück wird derzeit gegeben im "großen Welttheater?", fragt sich Philipp Blom in seinem jüngsten Buch. Die Personen stehen noch nicht fest, lautet seine Analyse, die Figuren haben noch nicht Kontur angenommen. Text gibt es noch keinen. Aber das Stück hat längst begonnen. Mit dem Essay "Das große Welttheater" hat der in Wien lebende Historiker jedenfalls eine Art Prolog zu diesem noch namenlosen Drama geschrieben: "Was fest war, verflüssigt sich. Neues wird möglich. Alles steht auf dem Spiel."

Ein Gespräch über die narzisstische Kränkung des Menschen, den Zauber der Krise und die Neuerfindung unserer eigenen Zukunft.

"Wiener Zeitung": "Das große Welttheater" entstand angesichts der Klima-Krise. Es liest sich jedoch wie für die Corona-Krise geschrieben. Wie hängen diese Schauplätze zusammen?

Philipp Blom: Es sind beides Auswirkungen unserer Ausbreitungswut, der Expansion in die Natur. Wir verbrauchen nun einmal schrecklich viele Ressourcen. Dabei greifen wir immer tiefer in Ökosysteme ein, konfrontieren Tiere miteinander, die einander sonst nicht begegnet wären. Da können auch Pathogene auf den Menschen überspringen, die das zuvor nicht getan haben. Insofern sind es zwei Gesichter desselben Problems.

Warum gelingt es uns besser, auf sich rasch nähernde Gefahren entschlossen zu reagieren als auf sich langsamer nähernde wie die Erderwärmung?

Wir sind psychologisch schlecht dafür ausgerüstet, mit allmählichen Krisen umzugehen. So eine plötzliche, katastrophale Veränderung wie Corona, darauf können wir sehr effektiv und schnell reagieren. So eine schleichende Veränderung wie das Klima, wo noch dazu die größten und katastrophalsten Veränderungen woanders stattfinden, ist viel schwieriger. Aber dieser Moment hat auch etwas Besonderes, das nachwirkt. Immer hat man uns gesagt: "Ja, ganz schrecklich, was mit dem Klima passiert, aber was sollen wir machen? Die Wirtschaft muss ja weitergehen, die Märkte brauchen Freiheit." Die Corona-Krise hat gezeigt, dass es möglich ist, dass eine Gesellschaft Prioritäten setzt, die nicht ökonomisch sind. Diesem Moment wohnt ein Zauber inne. Nie wieder kann uns jemand sagen: Das können wir nicht machen! Diese Debatten werden nicht mehr wegzukriegen sein.

Krisen stoßen oft Veränderung an. In der Kleinen Eiszeit orten Sie die Keimzelle der Globalisierung, im Erdbeben von Lissabon die der Aufklärung. Was keimt heute?

Wir hatten ein Gesellschafts-, Demokratie- und Wirtschaftsmodell, das in der Nachkriegszeit hervorragend funktioniert hat. Aber es ist aus dem Lot geraten. Das Gesellschaftsmodell hat sich gewandelt. Das Wirtschaftsmodell war auf Wachstum ausgelegt. Es war nicht nur möglich, zu wachsen, sondern es musste wachsen, um den eigenen Untergang abzuwenden. So schnelles Wachsen lässt sich nur mit mehr Ressourcenverbrauch schaffen. Unendliches Wachstum ist mit endlichen Ressourcen nicht möglich. Wir untergraben uns da unsere eigene Existenzgrundlage.

Sind wir schon in der Krise, die die Menschheit offenbar braucht, um Veränderungen herbeizuführen?

Das suggeriert zumindest die Geschichte: Große Veränderung passiert nur dann, wenn ein System das lange erfolgreich gewesen ist, so mit der Realität kollidiert, dass es irgendwann nicht mehr praktikabel ist. Wir hätten großes Glück, wenn uns diese Krise schon ausreichen würde als Impetus. Ich bin immer verstört, wenn Menschen davon sprechen, jetzt das System wieder hochfahren zu müssen. Es ist kein Betriebssystem. Es war auch davor kein System, das besonders gut funktioniert hat. Das ist auch die Chance, uns zu überlegen: In was für einer Art von Gesellschaft wollen wir eigentlich leben?

Wir könnten uns resilienter machen. Wenn unsere Wirtschaft nicht mehr davon abhängt, dass sie dauernd im Overdrive ist, dann kann sie auch mehr Krisen absorbieren. Dann reichte es, wenn sie nicht mehr 150 Prozent funktioniert, dann kann sie auch einmal 90 Prozent funktionieren, ohne dass das eine Katastrophe ist. Das sind keine einfachen Lösungen. Demokratie kostet eine Menge Geld, dafür brauchen wir eine robuste Wirtschaft. Einfach zur idyllischen Kreislaufwirtschaft zurückzukehren und in dörflichen Gemeinschaften leben, davon wird die Welt nicht besser. Das kann auch kein Ziel sein. Aber das Ziel muss sehr wohl sein, wieder eine Zukunft zu entwerfen, in der es sich lohnt zu leben, eine geteilte und soziale Hoffnung.

Wie baut man sich eine neue solche neue Zukunftserzählung?

Das lässt sich nicht aus der Retorte erzeugen. Da können vielleicht starke Bilder etwas bewirken. So wie Greta Thunberg. Sie hat Menschen dazu angeregt, anders über ihre Welt nachzudenken, Bedrohungen neu bewerten, aber vielleicht auch Möglichkeiten. Es entsteht Veränderung. Das kann auch auf der Bühne des Burgtheaters passieren, aber auch im Streit mit den eigenen Kindern beim Abendessen. Wenn eine neue Denkfigur kommt, sich ein neues Gefühl breit macht, dann entsteht eine neue Realität. Die Geschichten dazu entstehen in der Gesellschaft, aber vielleicht auch in Büchern oder im Theater.

"Das große Welttheater" entstand auf Einladung der Salzburger Festspiele zu deren 100. Geburtstag diesen Sommer. Was kann Kunst in der Krise zu dieser neuen Erzählung beitragen?

Kunst hat nicht die Verpflichtung, immer soziale Themen zu behandeln. Aber sie hat die Möglichkeit. Kunst verdichtet Erfahrung, potenziert sie und erlaubt uns dadurch, Erfahrung zu machen, ohne sie am eigenen Leib zu spüren, Gefühle und Gedanken auszuprobieren, mit denen wir sonst nicht konfrontiert gewesen wären. In der Kunst können wir die Offenheit der Frage zulassen: Ist das wirklich die beste mögliche Welt, in der wir leben? Es ist sicher die reichste, die es je gegeben hat. Aber es ist auch eine in der es viel Ungleichheit gibt, viel Einsamkeit. Mir kann niemand erzählen, dass es die glücklichste ist. Und wenn sie das nicht ist, dann ist es doch eine lohnende Frage: Wäre es möglich, in einer glücklicheren Gesellschaft zu leben, wenn wir aufhören würden uns und die Natur auszubeuten?

Und die Kunst ist das dafür notwendige Experimentierlabor?

Sie kann Bilder schaffen. Es geht nicht darum, jetzt Stücke über den Klimawandel aufzuführen. In der Kunst geht es um Menschlichkeit. Und Menschlichkeit reibt sich an den realen Verhältnissen. Diese Reibungswärme kann Verständnis erzeugen. Es geht nur darum, Menschlichkeit darzustellen, die restlichen Schlussfolgerungen muss kein Regisseur mit Müllbergen oder Trockenheit auf die Bühne zaubern. Diese Schlussfolgerungen finden Menschen ganz einfach, indem sie wieder in ihre Leben zurückkehren.

Kann uns die Analyse der Vergangenheit wirklich helfen, gegenwärtige Krisen zu meistern? Sprich: Können wir aus der Geschichte lernen?

Man kann schon aus Geschichte lernen. Das heißt aber nicht, dass ganze Gesellschaften aus Geschichte lernen können. Was sie aber sehr wohl tun ist, dass sie reagieren auf gemeinsame starke Erfahrung. Das letzte Mal, dass das in Europa passiert ist, war 1945. Aus dieser gemeinsamen traumatischen Erfahrung kommt die EU, die Priorität Frieden zu sichern. Wir sehen auch, dass diese Reaktion langsam verblasst. Auch, weil die betroffenen Generationen langsam verblassen. Dann bildet sich die Möglichkeit für etwas Neues. Es kann sein, dass diese Errungenschaften wieder aufgegeben werden, wir erleben in der Corona-Krise ja auch eine existenzielle Krise der EU. Es kann aber auch heißen, dass positive Reaktionen der neuen Solidarität herauskommen, des Umdenkens. Beides ist möglich. Und beides wird bis zu einem gewisse Ausmaß in gewissen Gesellschaften passieren.

Für nachhaltige Veränderung braucht es, Ihrer Analyse nach, nicht nur eine neue Zukunftserzählung. Auch das Menschenbild steht zur Neudisposition. Wie könnte das aussehen?

Das wird schon relativ deutlich. Die Aufklärung hat damit angefangen, die Frage zu beantworten, wer wir in der Natur sind. Dazu haben wir heute unglaublich viel Forschung. Dieses Menschenbild ist nicht das eines rationalen und freien Wesens, das die Erde befiehlt. Es ist das Bild eines Primaten, der Teil eines enormen Netzwerkes ist. Der Mensch ist ein Organismus, der durchzogen ist von anderen Organismen, mit DNA von Viren, mit Milliarden von bakteriellen Zellen, die uns erlauben zu verdauen, die aber nicht zu unserem Körper gehören. Vom Mikrobiom über die Epigenetik: Das sind revolutionäre Erkenntnisse darüber, was ein Mensch ist. Wenn wir all das zusammenzählen, dann sehen wir: Wir stehen mitten in der Natur. Wir sind nicht über sie erhaben. Wir können nur lernen, intelligent mit ihr zu koexistieren. Diese neue Erzählung wird jedenfalls über ein völlig neues Geschöpf berichten. Da brechen Jahrtausende von Kulturgeschichte weg, die uns gesagt haben, wir können die Herren der Schöpfung sein. Das heißt aber auch, dass eine kulturelle Logik von Unterdrückung und Ausbeutung ein Ende finden muss. Denn diese Logik bringt uns um. Dem muss eine andre Logik folgen. Nicht, weil wir bessere Menschen geworden sind, sondern weil wir überleben wollen.