Eineinhalb Monate lang dauerte es, bis die Ausgangsbeschränkungen zur Eindämmung des Coronavirus am 1. Mai schließlich endeten. Davor durfte man das Haus nur verlassen, um "nicht aufschiebbare Berufsarbeit", wie es hieß, oder notwendige Besorgungen zu erledigen, oder um anderen Hilfe zu leisten. Wer dringend ins Freie wollte, durfte das nur allein oder mit jenen Menschen tun, mit denen er in der Wohnung zusammenlebte. Eine Maßnahme also, die unweigerlich mit dem Vereinzeln der Menschen bis hin zu totaler Isolation verknüpft war - und damit das Phänomen Einsamkeit verschärft hat. Alleinsein und Einsamkeit hängen aber nicht per se zusammen, sagt die Psychiaterin Karin Gutiérrez-Lobos im Interview mit der "Wiener Zeitung".
"Wiener Zeitung": Wie wichtig sind soziale Kontakte?
Karin Gutiérrez-Lobos: Menschen brauchen soziale Kontakte, um sozial zu lernen und überleben zu können. Das Vermeiden von Einsamkeit ist ein Überlebensmerkmal der Menschen - das ist in der Evolution begründet. Gerade auch am Anfang, nach der Geburt, würden wir sonst sterben. Mit sich allein sein zu können, ist ein soziales Reifezeichen und individuell sehr unterschiedlich. Das hängt damit zusammen, welches grundsätzliche Vertrauen man zu den Menschen und in die Welt hat. Also inwieweit man weiß, dass man seine Identität und seine Zugehörigkeit zur Gruppe nicht verliert, wenn man allein ist.
Wann spricht man von Einsamkeit?
Unter Einsamkeit versteht man etwas, das man subjektiv empfindet: dass nicht genug soziale Beziehungen vorhanden sind und vor allem die Qualität der Beziehungen unzureichend ist. Das bedeutet, dass das Gefühl der inneren Verbundenheit zu anderen und damit das Gefühl, von diesen geschätzt, gebraucht und beachtet zu werden, fehlt. Die Selbstfürsorge lässt nach, die Einsamkeit schmerzt. Man kann auch viele soziale Kontakte haben und sich trotzdem einsam fühlen. Gleichzeitig sind viele, die allein sind, nicht einsam. Und selbst die Einsamkeit wird nicht immer als bedrückend erlebt. Manche Künstler oder Mystiker suchen sie, um Erfahrung mit dem eigenen Selbst zu machen. Die soziale Isolation - damit ist der objektive Mangel an Sozialkontakten gemeint - während der Corona-Krise war aber wahrscheinlich für viele sehr bedrückend, weil sie nicht selbst gewählt war, sondern aufgebürdet.
Wer ist besonders gefährdet, eine bedrückende Einsamkeit zu verspüren?
Gemeinhin wird es eher als Problem der älteren Generation gesehen, weil zum Beispiel der Partner gestorben ist, es keine Verwandten oder Freunde mehr gibt oder man nicht mehr mobil ist. Es gibt aber auch gute Studien, die zeigen, dass es im jungen Erwachsenenalter Phasen der Einsamkeit geben kann, und natürlich auch bei Kindern. Bei jungen Erwachsenen zum Beispiel dann, wenn der neue Arbeitsplatz an einem anderen Ort ist als das gewohnte Lebensumfeld und man sich erst ein neues Netzwerk aufbauen muss. Einsamkeit ist ein gesellschaftliches Problem: Armut und mangelnde gesellschaftliche Teilhabe etwa haben enorme Auswirkungen auf unsere sozialen Beziehungen und sind Risikofaktoren.
Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede?
Das ist nicht ausreichend untersucht. Frauen können besser darüber reden. Das heißt aber nicht automatisch, dass sie sich auch öfter einsam fühlen.

Hat das Phänomen Einsamkeit mit der voranschreitenden Anonymität innerhalb der Gesellschaft generell zugenommen?
Das ist schwierig zu sagen, und zwar aus mehreren Gründen: Betroffene sprechen nicht gerne darüber, weil Einsamkeit stigmatisierend und mit großer Scham behaftet ist, unter anderem, weil sie Erfolglosigkeit suggeriert. Dadurch entsteht eine Abwärtsspirale. Betroffene werden misstrauisch, verlieren weiter das Vertrauen in andere, weil ihr Selbstvertrauen schwindet. Je weniger man sich wertgeschätzt fühlt, desto schwieriger wird es aber, herauszukommen. Dazu kommt, dass man oft von anderen gemieden wird, wenn man in dieser Spirale gefangen ist, weil sie fürchten, selbst hineinzugeraten.
Sind Ärzte ausreichend geschult, zu erkennen, dass jemand unter Einsamkeit leidet?
Von Einsamkeit betroffene Menschen suchen oft vermehrt Hausärzte auf, um fehlende Kontakte zu kompensieren - die Aufmerksamkeit dafür muss man schon in der Ausbildung mehr stärken. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, ob der Betroffene jemanden hat, dem er vertraut, den er anrufen kann, wenn er Hilfe benötigt. Damit sieht man, wie gut sein soziales Netz aufgestellt ist. Bei einer Umfrage in Österreich hatten 17 Prozent diese Frage mit Nein beantwortet.
Wie hilft man einem von Einsamkeit betroffenen Menschen?
Indem man zum Beispiel niederschwellige Angebote für gemeinsame Aktivitäten mit anderen etabliert, getriggert durch ein Interesse wie Schachspielen, Tanzen oder ehrenamtliche Tätigkeiten. Auch der Kontakt zu Selbsthilfegruppen ist gut, weil der Betroffene dann sieht, dass er nicht allein mit seinem Problem ist. Er muss lernen, mit den Schwächen seiner Scham umzugehen. Die Kunst ist, es ihm zu erleichtern, diese zu überwinden.
Wo ist die Grenze hin zu einer echten Erkrankung zu ziehen?
Einsamkeit an sich ist noch keine Erkrankung. Soziale Phänomene sollte man auch nicht zu sehr pathologisieren. Anhaltende Einsamkeitsgefühle führen aber zu Stress und können damit Einfluss auf unsere physische und psychische Gesundheit haben. So können etwa Blutdruck und Blutzuckerspiegel erhöht sein beziehungsweise Angst und Depressionen entstehen.
Welche Lehren kann man aus der Corona-Krise ziehen?
Beispiel Homeoffice: Dazu haben mir viele berichtet, dass es zwar anfangs angenehm war, die sozialen Kontakte dann auf Dauer aber doch gefehlt haben. Telefonate und vor allem Videokonferenzen sind ein guter Ersatz, aber nur temporär. Für die Zukunft ist es wichtig, derartige Konzepte kritisch zu prüfen. Wesentlich ist bei Maßnahmen wie Ausgangssperren immer, einen zeitlichen Horizont zu geben, um die Situation leichter verarbeiten zu können. Was die Isolation älterer Menschen in Pflegeheimen betrifft, so sind die Maßnahmen meiner Meinung nach immer in eine vernünftige Relation zu setzen: Soziale Kontakte, Vertrautheit und Verbundenheit sind lebensnotwendig.