Seit Beginn der Corona-Pandemie steht unser aller Alltag kopf. Homeoffice, Homeschooling, Ausgangsbeschränkungen, soziale Isolierung und nicht zuletzt existenzbedrohende Gegebenheiten. Der Alltagsforscher Timo Heimerdinger von der Universität Innsbruck skizziert im Interview mit der "Wiener Zeitung", welche Lehren wir aus dieser Krise ziehen können und inwieweit unser Alltag in Zukunft anders laufen könnte.

"Wiener Zeitung":Was könnten diese Veränderungen für den Alltag der Zukunft bedeuten?

Timo Heimerdinger: Ob etwas bleiben wird oder die Menschen so schnell wie möglich in ihre alten Muster zurückkehren, ist die große Frage. Bei der Digitalisierung wird sicher einiges Bestand haben. Man denke an die Umstellung der Arbeitsabläufe in vielen Bereichen. Doch grundsätzlich hält der Mensch an Gewohnheiten fest. Vor allem, wenn es liebgewordene sind. Doch an vielen Stellen merkt man, dass der Wunsch, bald zu den alten Abläufen zurückzukehren, groß ist. Die Sprachregelung der Lockerung ist ja schon etwas, das tief blicken lässt. Ein Kulturwandel findet für gewöhnlich langsam statt und nicht in drei Monaten. Es sei denn, wir streben bewusst Veränderungen an. Da bietet die Corona-Situation Chancen.

Timo Heimerdinger ist Alltagsforscher am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck. - © andreasfriedle.at
Timo Heimerdinger ist Alltagsforscher am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck. - © andreasfriedle.at

Ist das bisherige Verständnis von Normalität damit gefallen?

Die Normalität ist eine neue, aber nur insoweit, als wir das auch kognitiv nachvollziehen. Was unsere Sinne rückmelden, ist die Welt, wie sie immer war. Nur in dem Wissen um das Virus wird es zu einer anderen Normalität. Mich erinnert es etwas an 1986 mit der Nuklearkatastrophe Tschernobyl. Die war für uns sinnlich auch nicht wahrnehmbar. Vielleicht zeigen sich auch Unterschiede, wie stark Menschen bereit sind, sich auf abstrakte Dinge einzulassen. Und es ist abstrakt.

Ja, solange es einen nicht selbst erwischt.

Wir sind glücklicherweise in Österreich von Situationen wie in Norditalien verschont geblieben. Und es gibt auch Stimmen, die sagen, das war alles übertrieben. Es gibt das Zitat: "There is no glory in prevention". Wenn dann alles gut gegangen ist, müssen sich die, die Vorsorge getroffen haben, auch noch den Vorwurf gefallen lassen, sie hätten übertrieben.

Was können wir aus der Zeit mitnehmen? Haben wir etwas gelernt? Sollten wir etwas gelernt haben?

Wir haben die Möglichkeit, sehr viel daraus zu lernen. Die Frage ist nur, ob wir das tun. Die Möglichkeit, uns die Wichtigkeit von Vorsorgemaßnahmen neu bewusst zu machen. Oder neu darüber nachzudenken, wie wir mit wissenschaftlichen Erkenntnissen umgehen. Wie wichtig es ist, Erkenntnisse, die nicht unmittelbar unseren Sinnen zugehen, ernst zu nehmen. Und wir müssen nachdenken, was es gesamtgesellschaftlich bedeutet, in einem Wirtschaftssystem zu leben, das so elementar darauf angewiesen, dass es immer mit 100 Prozent läuft. Wir haben gesehen, wie sehr die wirtschaftlichen Abläufe auf Kante genäht sind, dass schon drei Wochen Umsatzausfall Unternehmen an den Rand der Lebensfähigkeit gebracht haben. Das alles neben der Digitalisierung, wo viel passiert ist.

Was ist für das Gelingen eines Alltags relevant?

Die Erwartung. Das Funktionieren von Routinen, die Vorhersehbarkeit von Abläufen, von sozialem Verhalten. Dass die Welt morgen im Wesentlichen noch dieselbe ist wie heute. An dieser Stelle haben wir tatsächlich eine Erschütterung erlebt.

Welche Auswirkungen könnte die Krise haben?

Was wirtschaftlich passiert, werden wir erst sehen. Positiv sehe ich, dass diese Zeit für manche auch eine Phase der Besinnung war, ihren Alltag anders zu gestalten, aus dem Hamsterrad auszusteigen, andere Formen der Freizeitgestaltung und des sozialen Miteinanders auszuprobieren. Vielleicht auch neu zu entdecken. Das eigene Mobilitätsverhalten zu überdenken. In punkto Digitalisierung sehe ich ein zweischneidiges Schwert. Der Fortschritt hat uns neue Möglichkeiten gezeigt. Es wurden aber auch Grenzen sichtbar. Man denke an das Homeschooling oder die Lehre an der Universität. Bestimmte Formate werden wir beibehalten, doch der direkte Kontakt, der direkte Austausch und die Gruppensituation sind hier wichtig.

Wie können wir vorbauen, um auf solche Situationen in Zukunft besser reagieren zu können?

Das kann man pauschal nicht beantworten. In der Universität sind wir gut beraten, die Möglichkeiten der digitalen Lehre stärker durchzudenken. Im Gesundheitswesen wird es hoffentlich nicht mehr passieren, dass plötzlich die Schutzmasken fehlen. Aber auf politischer oder unternehmerischer Ebene ist es mir schleierhaft - etwa, wenn über Nacht ganze Märkte wegbrechen. Gesamtgesellschaftlich bleibt so eine Krise ein Ausnahmetatbestand, auf den man sich nicht vollständig vorbereiten kann. Vieles hängt an einem Impfstoff. Am Geld hakt es dabei nicht. Vielleicht ist es eine Lektion in Sachen Demut, dass sich bestimmte Dinge mit Geld allein oder mit politischer Anstrengung nicht regeln lassen.