Zahlen lügen nicht. Aber sie leiten bisweilen in die Irre. Bis Anfang Mai haben sich in Österreich rund 15.500 Menschen mit dem Coronavirus angesteckt, seither sind etwa 5000 Infizierte hinzugekommen. Bei der ersten Welle betraf nur etwa ein Viertel der Infektionen Junge bis 34 Jahre. Von den 5000 Ansteckungen seither entfällt nun fast die Hälfte auf diese Altersgruppe.
Das passt auch ins Bild von St. Wolfgang. Praktikanten haben in einer Bar gefeiert, mutmaßlich mehrfach, und nach der frühen Sperrstunde von 1 Uhr offenbar auch in Gemeinschaftsquartieren. Nun sind etwa 50 von ihnen positiv getestet worden. Auch anderswo zeigt sich: Junge Menschen sind derzeit die Treiber des Infektionsgeschehens.
Doch solche Statistiken muss man mit Vorsicht lesen. Im Frühjahr wurde noch restriktiver getestet, Symptome waren eine Voraussetzung. Wien hat als erstes Bundesland begonnen, bei den Kontaktverfolgungen auch asymptomatische Personen zu testen, Oberösterreich tat dies in St. Wolfgang nun ebenfalls. Nur so wurde der Cluster überhaupt entdeckt. Die wenigsten der Jugendlichen sind tatsächlich erkrankt, im März wären sie gar nicht getestet worden.
Da Kinder und Jugendliche häufiger asymptomatisch bleiben, sind sie in den Statistiken der ersten Welle wohl unterrepräsentiert. Dennoch ist anzunehmen, dass junge Menschen (Kinder allerdings weniger) eine maßgebliche Rolle in der Epidemie spielen. Das liegt am Lebensstil. Jungen haben mehr Sozialkontakte, öfter auch in großen Gruppen, sie sind mobiler und feiern häufiger. "Altersspezifisches Risikoverhalten", nennt es Daniela Schmid, Epidemiologin bei der Gesundheitsagentur Ages. Das Virus und junge Menschen mögen die selben Verhaltensweisen: soziale Kontakte und Fortgehen.
Clubkultur sieht sich bedroht
Es ist auch der Grund, warum Diskotheken und Nachtclubs nach wie vor geschlossen sind, die Sperrstunde auf 1 Uhr vorverlegt wurde und Konzerte nur sitzend stattfinden können, was für den Technoabend eher ungeeignet ist. Vor allem in Wien sieht sich die Clubkultur massiv bedroht, die Betreiber fordern eine komplette Übernahme der Fixkosten.
Gesundheitsminister Rudolf Anschober kann kein Öffnungsdatum nennen, virologisch sei das "ganz schwierig", sagt er. "Wir müssen uns um diese Gruppe kümmern." Er kündigte einen "Gesprächsprozess" mit den für Kultur und Tourismus zuständigen Ressorts an.
Die bedrohten Nachtclubs sind aber nur ein Symptom eines Solidaritätsdilemmas. Junge Menschen sind von der Krankheit selbst vergleichsweise wenig betroffen, sie erkranken seltener und Todesfälle sind Ausnahmen. In Schweden, wo 5700 Menschen an Covid starben, gibt es nur 9 Covid-Tote unter 29 Jahren. Die Fall-Sterblichkeit liegt in dieser Altersgruppe in Österreich und Deutschland bei etwa 0,05 Prozent und darunter. Bei über 80-Jährigen liegt sie hingegen bei 20 bis 30 Prozent. "Die Altersabhängigkeit bei Covid ist extrem, bei Grippe ist das nicht so stark", sagt Gesundheitsökonom Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien. Was für Ältere eine massive Bedrohung ist, ist für Junge ein Lebensrisiko wie andere Krankheiten auch.
Festspiele ja, Frequency nein
Umgekehrt sieht die Betroffenheit dieser Gruppen hinsichtlich der Einschränkungen aus. Die "neue Normalität" vieler junger Menschen weicht von der tatsächlichen stärker ab, als dies bei Älteren der Fall ist. Die Salzburger Festspiele finden statt, Musikfestivals der Jugend, wie etwa das Frequency Festival, dagegen nicht. Das Solidaritätsdilemma besteht also darin, dass junge Menschen von den Gefahren des Virus weniger betroffen sind, sie aber gleichzeitig mehr (nicht-finanzielle) Lasten der Eindämmungsmaßnahmen zu tragen haben.
In Umfragen des Austrian Corona Panel Projects der Uni Wien, die regelmäßig durchgeführt werden, zeigt sich zwar, dass junge Männer (20 bis 29 Jahre) die Gruppe sind, die den Corona-Regeln am skeptischsten gegenüberstehen, doch das war schon im März der Fall. Ein Absinken der Solidarität zeigt sich in den Daten zumindest bisher nicht. Das ist die gute Nachricht. Wann es aber eine wirksame Impfung geben wird, ist höchst unsicher. Und heute 18-Jährigen zu erklären, dass sie beim nächsten Diskobesuch vielleicht schon 20 sein werden, wird nicht leichter, je länger diese Krise besteht.
In den Cluster-Analysen ist vorerst nicht zu sehen, dass das Nachtleben selbst einen nennenswerten Beitrag leistet. Der Fall in St. Wolfgang ist demnach eher die Ausnahme. Freilich, vieles weiß man einfach nicht. Es ist aber offensichtlich, dass das soziale Leben von Jugendlichen wieder angelaufen ist.
In Wien hat es sich stark nach draußen verlagert, etwa zum Donaukanal. Epidemiologisch ist das besser als ein Bar-Setting, und einige brachten auch Boxen mit und machten den Donaukanal zur Tanzparty. Der Lärm störte dann aber Anrainer, auf Musik müssen die Jugendlichen seither verzichten. Also dort keine Party mehr.
Auch Junge können schwer erkranken
Dass auch junge Menschen meist Verwandte haben, die ein höheres Risiko aufweisen, ist für die Aufrechterhaltung des solidarischen Verhaltens förderlich. Dazu kommt, dass auch Junge durchaus schwer erkranken können. "Wir wissen auch noch nichts zu den Langzeitfolgen", sagt Czypionka. Was man weiß: Covid ist eine Systemerkrankung, sie kann mehrere Organe befallen. Es gibt also sehr wohl wichtige, medizinische Argumente für Jugendliche, sich möglichst nicht anzustecken, wie die auf Medizinethik spezialisierte Politologin Barbara Prainsack vom Austrian Corona Panel argumentiert.
Doch für diese Gruppe ist es auch wichtig, nicht den Anschluss ans soziale Leben zu verlieren, den Freundeskreis und den Horizont zu erweitern. Selbst umsichtige Menschen können da in innere Konflikte geraten. Sagt man für die WG-Party ab, weil man das Feiern in Innenräume meiden will? Wie oft verzichtet man auf das Treffen mit Freunden, weil diese in eine Bar gehen wollen? Nichts davon ist verboten, es ist nur etwas riskanter, und es gibt gute Gründe, diese Situationen zu meiden. Aber die Sorge, etwas zu verpassen, Freunde zu verlieren, ist ebenfalls berechtigt. Die Bundespolitik hat sich dieses tiefen Dilemmas bisher nicht angenommen. Pressekonferenzen gab es reichlich. Zur Lage der Jugend? Nicht eine.