Während weite Teile der Welt in den Corona-Lockdown gingen, entschied sich Schweden für einen anderen Weg. Es gab nie eine Maskenpflicht. Fast alles blieb erlaubt und geöffnet. Alle Geschäfte, Schulen bis einschließlich der neunten Klasse, Kindergärten, Büros, Bars, Restaurants, Fitnessstudios, Büchereien und sogar einige Kinos. Noch bis Ende März durften 500 Menschen zusammenkommen. Bis heute sind es maximal 50. Dies, ein Besuchsverbot in Altersheimen und Abstandsregeln in der Gastronomie waren die einzigen Einschränkungen. Empfohlen wurden lediglich Händewaschen und zuhause zu bleiben, wenn es beruflich möglich ist oder man sich leicht krank fühlt. Der Arzt Anders Tegnell (64) ist Schwedens Staatsepidemiologe und der umstrittene Architekt des Sonderweges ohne Lockdown.
"Wiener Zeitung": In Schweden sind Intensivstationsfälle, Tote und Neuerkrankungen zuletzt deutlich zurückgegangen. Auch war das Gesundheitssystem nie überlastet - all das ohne Lockdown. Wie ist das möglich?
Anders Tegnell: Man kann auch mit einem freiwilligen Ansatz, mit Empfehlungen Erfolg haben. Es kann der gleiche Effekt erzielt werden wie in einer Gesellschaft, die in den Lockdown-Modus geschickt wird. Und dies mit bedeutend weniger Nebeneffekten. Zwangsmaßnahmen für das ganze Volk sind schwierig, man muss als Gesundheitsbehörde auf die Gesundheit der gesamten Gemeinschaft schauen und inwieweit die Effekte eines Lockdowns die Menschen so stark belasten, dass andere Sterblichkeitsraten steigen. Dazu zählt beispielsweise die Selbstmordrate oder wenn bei schwerkranken Menschen die Hemmschwelle zum Arztbesuch aufgrund des Lockdowns erhöht wird. Für Menschen ist es gesundheitlich schädlich, unfreiwillig isoliert zu werden.
Warum haben sie nicht einmal eine Maskenpflicht eingeführt?
Wir wissen noch immer wenig darüber, inwieweit Masken die Pandemie dämpfen können. Wir haben Länder mit scharfer Maskenpflicht, die dennoch unter einer sehr starken Corona-Ausbreitung leiden. Es ist natürlich möglich, dass Masken in gewissen Situationen, in denen Menschen sich auf engem Raum drängen, einen gewissen Effekt haben. In Schweden haben wir keine Anzeichen, dass es eine große Ansteckungsgefahr etwa auf Transportwegen gibt. Wir haben ausreichende Kapazitäten, damit stattdessen Abstand gehalten wird. Auch können Masken eine falsche Sicherheit bieten. In Schweden haben wir die Strategie, dass man zu Hause bleiben soll, wenn man krank ist, statt sich mit Masken hinauszubegeben. Zudem haben wir wie von Ihnen erwähnt seit Wochen immer weniger Neuinfizierte, Intensivstationspatienten und Tote. Bei dieser guten Entwicklung ist eine Maskenpflicht derzeit nicht aktuell für uns.
Ihr Chef, Gesundheitsamtsdirektor Johan Carlson, sagte: "Wenn die Leute sagen, wir in Schweden wagen ein Experiment mit unserem Sonderweg, würde ich antworten, es ist ein äußerst, äußerst kniffliges Experiment, die gesamte Bevölkerungen über Monate hinweg einzusperren." Wie stehen Sie zu dieser Aussage?
Genauso ist es. Es gibt insgesamt sehr wenig Evidenz für Maßnahmen gegen die Pandemie. Oft wurde unterstellt, dass das schwedische Modell noch weniger evidenzbasiert ist als die Lockdown-Modelle. Aber die Wahrheit ist, dass es auch für die Lockdown-Ansätze kaum Erfahrungen gibt. Unsere Tradition ist, die gesamte Volksgesundheit durch langfristige Maßnahmen so lange wie möglich zu schützen. Dagegen gibt es für den scharfen Lockdown einer ganzen Gesellschaft eigentlich nur negative Erfahrungen von früheren Pandemien.
Aber warum hat Schweden so viel mehr Tote pro 100.000 Einwohner gehabt im Vergleich zu den Nachbarländern? Über 5700 Menschen sind gestorben. Österreich verzeichnet nur etwas mehr als 700 Tote.
Ein großer Anteil der Verstorbenen in Schweden, rund die Hälfte, lebte in speziellen Altersheimen für die Ältesten und besonders Kranken. Insgesamt sind dort rund 70.000 Menschen untergebracht, die meisten sind also gesund geblieben. Einige Altersheime waren auf die Pandemie leider nicht vorbereitet und hatten nicht das nötige Wissen, um die Ausbreitung zu verhindern. Im Grunde geht es beim Infektionsschutz in Altersheimen um Dinge, die permanent funktionieren müssen, auch wenn es keine Pandemie gibt. Auch in anderen europäischen Ländern, ob mit oder ohne Lockdown, waren diese Gruppen besonders betroffen.
Hätte eine weniger lockere Strategie die vielen Toten nicht doch verhindern können? Schließlich haben unter anderem Pflegekräfte das Virus in die Altersheime gebracht.
Nein, der Grund dafür waren punktuelle Schwachstellen, die behoben wurden. Wir haben weiterhin die gleiche Grundstrategie und inzwischen eine minimale Covid-19-Ausbreitung in Altersheimen. Und die Ausbreitung in Altersheimen verschwand bereits, bevor die Ausbreitung in der Gesellschaft stark gesunken ist. Das zeigt, es gibt ganz klare indirekte Beweise dafür, dass auch die schwedische Strategie die Ausbreitung in Altersheimen verhindern kann.
War die Herdenimmunität in Schweden ein Ziel der Gesundheitsbehörde, dass sich viele anstecken und dann immun werden?
Nein. Wir wollen ja nicht, dass Menschen krank werden. Aber wir wissen auch: Je größer der Teil der Bevölkerung ist, der durch eine Erkrankung immun geworden ist, desto einfacher wird es, weitere Ausbrüche in der Zukunft zu bewältigen. Es gibt also Gründe, anzunehmen, dass die hohe Immunitätsrate eine weitere umfassende Corona-Welle bei uns verhindern könnte. Ausbrüche kann es aber weiter geben. Da muss man auf der Hut bleiben. Es ist schwer, exakte Werte zu ermitteln, etwa für Stockholm. Aber wir glauben, die Immunität liegt dort bei 20 und 40 Prozent der Bevölkerung.
Ist die im Vergleich zu Lockdown-Ländern vermeintlich sehr fortgeschrittene Immunität auch ein Grund dafür, dass in Schweden die Zahl an Neuinfizierten, Patienten auf Intensivstationen und Toten so deutlich gesunken ist trotz Verzichts auf einen Lockdown?
Ja, das glaube ich. Die verbesserte Lage kann an die hohe Immunität im Volk gekoppelt werden. Denn wir haben ansonsten keine Maßnahmen verändert. Der Rückgang der Pandemie war in Stockholm, wo es die meisten Kranken und nun immunen Menschen gab, besonders deutlich.
Wird Schweden wieder auf Freiwilligkeit setzen, wenn ein Impfstoff kommt?
Ganz klar ja. Zuerst werden wir den Impfstoff denjenigen anbieten, die ein großes Erkrankungsrisiko haben. Aber wir werden darauf achten, dass im Anschluss das gesamte Volk Zugang zum Impfstoff erhält.
Das schwedische Gesundheitsamt hat als Expertengruppe anscheinend einen völligen Freibrief im Umgang mit der Corona-Krise. Die Politiker hielten sich sehr zurück. Welchen konkreten Einfluss hat die Politik auf die schwedische Corona-Strategie genommen?
Wir haben die ganze Zeit einen sehr engen Dialog mit der Politik. Aber die Politik kümmert sich um ihren Teil und wir kümmern uns um unseren Teil, man mischt sich traditionell nicht gegenseitig ein.
Ihr Chef hat gesagt, Ihre Kollegen von Gesundheitsämtern in anderen Ländern hätten sich unter der Hand beklagt, dass Politiker zu viel in der Pandemie beschlossen haben, statt Entscheidungen den Experten zu überlassen. Haben Sie auch den Eindruck?
Ja, das sind Signale, die auch ich von meinen Kollegen in zuständigen Behörden in ziemlich vielen EU-Ländern bekommen habe. Viele Fragen zur Pandemie sind dort leider ziemlich politisiert worden. In Schweden gab es auch eine kleine Gruppe an Forschern, die unseren Kurs sehr kritisch sieht. Aber wir genießen sehr hohes Vertrauen in der Bevölkerung. 80 Prozent aller Schweden folgen unseren Empfehlungen.