Eine kleine, prominent besetzte Forschergruppe in den USA ist ungeduldig und will nicht länger auf einen zugelassenen Impfstoff gegen Covid-19 warten. Zwar befinden sich von nahezu 200 Impfstoffkandidaten sechs in der entscheidenden Phase, doch ginge auch das nicht schnell genug. Die Wissenschafter experimentieren daher mit einem selbst gemachten Serum aus nur fünf Zutaten. Sie mischen es nicht nur in Eigenregie, sondern testen das Mittel auch an sich selbst. Fern jeglicher Konventionen ist die "bürgerwissenschaftliche" (Citizen Science) Initiative "Rapid Deployment Vaccine Collaborative", kurz "Radvac", um die Gründer Preston Estep, Don Wang, Alex Hoekstra und Ranjan Ahuja tätig geworden. Teilweise sie selbst als auch einige ihrer Mitstreiter sind mit der Harvard University und dem Massachusetts Institute of Technology in Cambridge verbunden.
Bauanleitung im Netz
Unter ihnen befindet sich auch der Harvard-Forscher und renommierte Genetiker George Church, der bereits einen Selbstversuch gestartet hat. Der Impfstoff wird als Nasenspray verabreicht. Er enthält synthetisch produzierte Fragmente des Sars-Cov-2-Virus, wie auf der Homepage von Radvac skizziert wird. Diese Peptide sollen im Körper eine Immunreaktion hervorrufen. Auf der Webseite findet sich auch ein sogenanntes "White Paper", in dem die Forscher die Beweggründe, die Methoden und eine Bauanleitung anführen. Darin warnen sie aber auch mögliche Nachahmer, dass es kein geprüftes Produkt und auch keine überwachte klinische Studie sei. Die Mischung könne aber von jedem Arzt und in jeder Apotheke hergestellt werden. Für die Sicherheit können die Forscher allerdings nicht garantieren, räumen sie ein.
Gründer Estep selbst ist Molekularbiologe. Mit seinem Selbstversuch tritt er in die Fußstapfen vieler ehemaliger Forscher. Die Experimente waren nicht immer erfolgreich. So erkrankte der deutsche Mediziner Robert Koch im Jahr 1890 nach einer Selbstinjektion eines Mittels gegen Tuberkulose an ernsthaften Nebenwirkungen. Dem englischen Arzt Edward Jenner gelang jedoch 1794 eine erfolgreiche Immunisierung gegen die Pocken. Auch Jonas Salk ging 1954 mit einem Totimpfstoff gegen Kinderlähmung unbeschadet hervor und erreichte einen Durchbruch.
Obwohl Citizen Science in den USA eine starke Tradition hat, "ist ein hausgemachter Covid-19-Impfstoff vielleicht gefährlicher, als die Leute glauben möchten", betont der Rechtswissenschafter Jacob Sherkow von der University of Illinois, im Fachblatt "Science". Das Interesse an einem Do-it-yourself-Ansatz beruhe auf der falschen Überzeugung, dass Selbstversuche nicht einer mühsamen Überprüfung durch die Ethikkommission oder einer Bundesverordnung unterliegen würden. Dieses Missverständnis habe jedoch möglicherweise schwerwiegende Folgen für die öffentliche Gesundheit, betont der Jurist. Die Forscher entziehen sich mit ihrer Vorgehensweise jedenfalls der Schirmherrschaft der Pharmaindustrie.
"Über alle Maßen verrückt"
"Die Leute sollten sich bewusst sein, dass es nicht ohne Genehmigung legal ist, nur weil sie an sich selbst experimentieren. Nur weil es sich um Selbstversuche handelt, gibt es keinen Freibrief", so Sherkow. "Informationen, die Sie in einer dunklen Ecke des Internets gefunden haben, aber zur Entwicklung eigener Materialien verwenden und Materialien oder Reagenzien über Staatsgrenzen hinweg versenden müssen, löst die Aufsicht der FDA (US Food and Drug Administration) aus", so der Experte.
Es sei ihre einzige Chance, immun zu werden, ohne ein Jahr oder länger auf ein zugelassenes Serum warten zu müssen, zitiert wiederum das US-Magazin "MIT Technology Review" die Forscher. Der Bioethiker Arthur Caplan von der New York University nennt die Kollegen von Radvac "über alle Maßen verrückt". Er kritisierte zuletzt, ebenfalls in "Science", dass mit Selbstversuchen das Vertrauen in die Wissenschaft erschüttert werde. Vertrauen sei wichtig, "wenn sich Impfstoffe als nützlich erweisen sollten". Was eine erfolgreiche Covid-19-Vakzine tatsächlich ausmacht, weiß allerdings nach wie vor niemand.