Ein neues Medikament aus Österreich verhindert, dass das Coronavirus Sars-CoV-2 in die Zellen eindringt. In einer Fallstudie habe es sich als wirksam erwiesen, berichten der Genetiker Josef Penninger, das von ihm gegründete Unternehmen Apeiron Biologics und das Wiener Institut für Molekulare Biotechnologie im Fachmagazin "The Lancet Respiratory Medicine". Penninger, den die "Wiener Zeitung" telefonisch in Kanada erreichte, erklärt das Wirkungsprinzip und stellt in Aussicht, wie man den neuen Erreger damit in den Griff bekommen könnte.
"Wiener Zeitung": Herr Penninger, Sie sind nach dem Sommer zurück an Ihrem Institut in Kanada. Wie streng sind die Corona-Maßnahmen dort?
Josef Penninger: Heute ist der erste Tag, an dem ich wieder vor die Türe darf. Ich bin vor zwei Wochen aus Österreich angekommen, wurde getestet und habe nichts, musste aber trotzdem in Selbstisolation. Die ersten Tage waren eine Katastrophe, weil die Feuerwolke von den Waldbränden in Kalifornien dafür sorgte, dass Vancouver die schlechteste Luftqualität der Welt hatte.
Ihr Medikamentenkandidat APN01 gegen Covid-19, den Sie zusammen mit der Firma Apeiron Biologics entwickeln, hat zumindest bei einer Patientin gewirkt. Wie funktioniert er?
Das Medikament verfolgt einen Ansatz im Zentrum der Pandemie. Es hat zwei Funktionen. Der Rezeptor ACE2 oder Angiotensin Converting Enzyme ist ein Eiweiß an den Oberflächen von Zellen, das sie normalerweise mit Nährstoffen versorgt. Sars-CoV-2 dockt aber an den Rezeptor an und tritt mit ihm ein. Das Medikament ist eine lösliche Form des Rezeptors, das den Erreger am Eintreten hindert. So wie ein neutralisierender Antikörper blockiert es das Virus.
Wie macht es das?
Das Virus braucht eine Tür, um in unser Haus einzutreten, und diese Tür heißt ACE2. Das Medikament bietet dem Virus zehntausende zusätzliche Türen, die das Schloss nicht öffnen. Dadurch findet der Erreger die richtige Tür nicht mehr. APN01 trickst das Virus aus, indem es vorgibt, der Rezeptor zu sein.
Und dann?
ACE2 schützt nicht nur die Lunge, sondern auch andere Organe, wie das Herz, die Blutgefäße oder die Nieren. Wenn das Virus ins Blut gelangt, kann es alle Zellen infizieren, die ACE2 beschützt. Man muss sich das so vorstellen: Das Virus will durch die Tür, klopft aber weder an, noch drückt es die Schnalle. Sondern es nimmt die Türe gleich mit, das Virus fällt mit der Tür ins Haus. Statt an der Zelloberfläche die Organe zu schützen, wird die Türe einfach entrissen und bleibt dann verschwunden. Dieser Verlust führt zu Multi-Organ-Schäden und einer Verschlechterung der Symptome in der Lunge.
Ist ausschließlich die Zerstörung von ACE2 die Ursache, dass das Coronavirus sich im Körper verbreiten kann?
Soweit wir wissen, ist ACE2 die kritische Türe. Ob es noch eine Nebentüre gibt, wird sich herausstellen. Das System erzeugt nämlich noch ein kleineres Peptid namens Angiotensin 2. Es reguliert den Blutdruck, die Herzfunktion und den Transport von Sauerstoff im Blut. ACE sieht dazu, dass dieses System in Balance bleibt. Wenn das Virus die normale Funktion von ACE2 aber abschaltet, feuert das kleine Peptid ständig. Die Blutgefäße ziehen sich zusammen, das Herz ist schlechter geschützt, die Niere wird geschädigt. Das Virus ändert die Balance des Systems und das Medikament soll dafür sorgen, dass es wieder in Balance kommt, indem es die Defekte von Angiotensin 2 ausgleicht.
Warum haben Sie Ihr Medikament an bloß einer Patienten getestet, wo doch die Pandemie wütet und Impfstoffe im Schnellverfahren entwickelt werden?
Niemandem ist mit Schnellschüssen geholfen. Covid-19 ist eine komplexe, multifaktorielle Erkrankung. Zwar ist die Wissenschaft über ACE2 eindeutig, aber im Patienten ist es anders, weil viele Systeme zugleich zusammenbrechen. Wir haben fundamentale Daten gebraucht, was das Medikament im Körper einer Person, die schwer an Covid-19 erkrankt ist, tut. Es funktioniert wie erwartet und das ist ganz essenziell. Der Zytokin-Sturm ist gesunken, das Immunsystem funktioniert und das Virus verschwand.
Wann startet eine klinische Studie?
Derzeit rekrutieren wir unter anderem in Österreich 200 Probanden in einem fortgeschrittenen schweren Erkrankungsstadium für eine Doppelblind-Studie. Die Daten werden wir hoffentlich Ende des Jahres haben. Apeiron hat bekanntgegeben, dass das Medikament vielleicht Anfang nächsten Jahres auf den Markt kommen könnte.
Wie leicht sind Impfstudien im Vergleich?
Impfstoffe sind ein anderes Ballspiel. Sie werden gesunden Menschen gegeben in der Erwartung, dass diese geschützt sind oder die Krankheit bei ihnen weniger schwerwiegend verläuft. Hier ist die Schwierigkeit, wie lange ein Vakzin schützt, und ob Ältere genauso reagieren wie Jüngere. Ob es funktioniert, kann man nur wissen, wenn man die Leute dem Virus aussetzt. Um solche Daten zu bekommen, wollen die Engländer Freiwillige gezielt infizieren, was einen Haufen ethischer Implikationen hat. Medikamententests sind anders, weil sie an Kranken getestet werden. Hier geht es um Rekrutierung, Einschlusskriterien, wer es bekommen soll. Derzeit sind 1.200 klinische Studien angemeldet für Covid-19.
Im März haben Sie kurz vor dem Lockdown gewarnt, dass man das Coronavirus nicht unterschätzen sollte. Haben sich Ihre Befürchtungen bestätigt?
Bei Menschen im Alter von über 80 Jahren liegt die Sterblichkeit bei mehr als zehn Prozent. Bei Jüngeren ist dieses Risiko zwar weitaus geringer, aber das heißt nicht, dass das Virus nicht gefährlich ist. Die USA haben es unterschätzt, sie haben mehr als 200.000 Tote, in zahlreichen südamerikanischen Ländern ist es ähnlich.
Wie viele Stämme gibt es derzeit?
Soweit ich weiß, gibt es sechs oder sieben Stämme. Die Mutationsrate des Coronavirus liegt bei der Hälfte jener des Grippevirus, was aber auch schon anständig ist. Es hat sich ein Sars-CoV-2-Stamm namens D614G durchgesetzt, weil er die Spikes stabilisiert. Das idealisierte Viruspartikel, das man in den Grafiken sieht, gibt es ja so meistens nicht. Manche haben nur drei Spikes, andere 100. Andere Spikes fallen wiederum auseinander. Eine Mutation, die sie stabilisieren, dienen dem Überleben des Erregers. Noch nicht klar ist aber, ob die Mutation bösartiger oder gutartiger ist. Wir sehen nur, dass die Erkrankungen weniger schwerwiegend als vorher verlaufen und mehr jüngere Leute infiziert werden.
Warum gibt es schwere und leichte Verläufe?
Wir haben es seit Jahren mit vier verschiedenen Coronaviren zu tun, die andere Rezeptoren verwenden und uns Menschen einen Schnupfen verpassen. Es könnte sein, dass Personen, die sie schon hatten, eine teilweise Immunität haben, die jetzt kreuz mit dem neuen Erreger reagiert. Warum Sars-CoV-2 aber mehr Schäden in älteren Nieren und Blutgefäßen anrichtet, liegt wohl tatsächlich an bestehenden Schäden. Die Organe sind schlechter geschützt, weil ACE2 fehlt, und halten weniger aus.
Wir scheinen auf einen harten pandemischen Winter zuzusteuern. Welche Perspektiven sehen Sie? Wird uns das Coronavirus auf Jahre beschäftigen?
Wahrscheinlich wird aus politischen Motiven relativ schnell ein Impfstoff zugelassen, vielleicht noch vor den US-Wahlen (3. November, Anm.). Selbst wenn dieses Vakzin nur teilweise schützt ist es sicher nicht unklug, sich impfen zu lassen. Von Viren waren wir ohnehin nie frei, die Idee einer virenfreien Umwelt ist so realistisch wie die einer Gentechnik-freien Landwirtschaft. Es gibt 1,7 Millionen Virus-Spezies bei Säugetieren und Vögeln. Wir kennen 200 Viren, die uns infizieren können.
Aber nicht jedes Virus ist ein Damoklesschwert für die Volksgesundheit, das uns in ein kompliziertes Regelwerk von sich ständig ändernden Verordnungen zwingt, um gesund zu bleiben.
Wenige Viren haben pandemisches Potenzial. Wenn Ebola in Wien ausbrechen würde, wäre es zwar furchtbar für die Personen, die es bekommen, aber wir hätten es relativ schnell unter Kontrolle aufgrund der Art und Weise, wie es andere ansteckt. Das Perfide an Sars-CoV-2 ist, dass viele Menschen infiziert sind, ohne es zu merken.
Die Zukunft der Menschheit - eine ewige Pandemie?
Es gibt diese tollen Hypothesen, wonach die Entwicklung der Menschheit sehr eng verbunden ist mit Pandemien, die zu grundlegenden Systemveränderungen führten. Schon vor 300 bis 400 Jahren gab es Länder, nach deren Besuch man zwei bis drei Wochen in Quarantäne musste. Heute leben wir in einer Welt mit Antibiotika und toller Medizin, in der wir das teilweise vergessen haben. Wir in den reichen Ländern dachten, das passiere bei uns ohnehin nicht, aber jetzt wissen wir, dass das sicher nicht der Fall ist. Wir haben eine Technologie entwickelt, um Schwachstellen von Viren zu finden und uns vorab gegen Ausbrüche zu wehren. Als ich vor einem Jahr Investoren suchte, fand ich keine. Die Welt hat sich seither fundamental geändert.