Nun ist also passiert, was vor wenigen Wochen "nicht vorstellbar" (Anschober) war, was um jeden Preis verhindert werden sollte, da der wirtschaftliche Schaden einfach immens wäre: ein zweiter Lockdown, und zwar in der Variante Vollkontaktbeschränkung, ohne "light" oder dem Präfix "Teil-", sondern mit ganztätigen Ausgangsbeschränkungen und einer Sperre praktisch des gesamten öffentlichen Lebens. Das wirft eine große Frage auf: Wie konnte es nur soweit kommen?

Es ist zielführend, diese Frage zweigeteilt zu stellen: Nämlich, erstens, wie konnte es soweit kommen, dass die Fallzahlen derart steigen, dass Kontaktbeschränkungen überhaupt notwendig werden. Sowie, zweitens, wie konnte es soweit kommen, dass sich die Regierung gefordert sah, die vor zwei Wochen beschlossenen Kontaktbeschränkungen drastisch nachzuschärfen. Trotz der enormen Kollateralschäden, die damit einhergehen.

Mit der ersten Frage haben sich heimische Medien und die Opposition in den vergangenen Monaten durchaus intensiv beschäftigt. Die Einmütigkeit des März ist längst passé, stattdessen ist die Regierung in der Dauerkritik: wegen irreführender oder verspäteter Verordnungen; wegen zu laxer oder, wahlweise, auch zu strenger Maßnahmen; wegen missverständlicher Kommunikation; wegen des Fehlens eines geeigneten Plans für den Schulbetrieb sowie des mangelnden Aufbaus personeller Ressourcen beim Contact Tracing. Die Liste ist unvollständig. An kritischen Tönen hat es jedenfalls nicht gemangelt. Und dass tatsächlich etliche Fehler passiert sind, ist wohl unstrittig.

Über das richtige politische Handeln, aber auch über die fachliche Bewertung des Infektionsgeschehens, ist seit dem Sommer sukzessive ein Streit entbrannt. Zu beobachten war auch eine Polarisierung in der Bevölkerung, die durch die lebhaften Debatten einerseits, anderseits aber auch durch die unterschiedliche Betroffenheit der vielfältigen Auswirkungen der Krise befördert wurde. Seit Beginn der Pandemie wird von einem Team der Universität Wien die Akzeptanz der Maßnahmen abgefragt. Während im März noch rund 72 Prozent das Vorgehen als angemessen befanden, ist dieser Wert bis Ende Oktober auf 41 Prozent gesunken. Bemerkenswert ist die wachsende Uneinigkeit. Immer mehr Menschen stufen die Maßnahmen entweder als nicht ausreichend oder als zu extrem ein.

Vielstimmigkeit in der Debatte führte zu Irritationen

In diesem Widerspruch offenbart sich auch die Polarisierung, die der öffentlichen Debatte über konkrete Aspekte der Pandemiebekämpfung, etwa zur Maskenpflicht oder zuletzt beim Thema Schulen, die für eine sachliche Diskussion notwendigen Nuancierungen nahm. Wissenschaftliche Studien und Aussagen von Fachleuten wurden in dieser Dynamik tendenziell überinterpretiert, um sie, je nach eigener Sichtweise, einem Dafür oder Dagegen, einem Schwarz oder Weiß, zuzuordnen.

Eine derartige Debattendynamik verwirrt mehr, als sie an Erkenntnis bringt. Der eine Experte sagt dies, die andere Expertin sagt das, der Gesundheitsminister sagt jenes und die Opposition wieder was anders. Was gilt jetzt? Wem ist zu glauben? Wem zu vertrauen? Es ist wohl unstrittig, dass diese Vielstimmigkeit irritiert. Aber wem wäre dafür der Vorwurf zu machen? Für eine gelungene Krisenkommunikation ist diese Kakophonie ein Problem, und es ist wohl auch ein Grund, warum militärische Kommandostrukturen keine basisdemokratischen Diskussionszirkel sind. Doch die Vielstimmigkeit ist eben auch Ausdruck der Demokratie (Opposition, Medienvielfalt) und der Meinungsfreiheit.

Digitales Tracing-App und Schnelltest als Hoffnung

Doch ist all das, die Fehler der Regierung, die Polarisierung und die verwirrende Vielstimmigkeit, der Grund für den Anstieg der Infektionszahlen? Es ist auffallend, dass in ganz Europa die Entwicklungen im Herbst sehr ähnlich verläuft, die logarithmischen Kurven (der Wachstumsraten) ja sogar fast identisch sind. Wie kann das sein? Es sind unterschiedliche Länder, mit unterschiedlichen Regierungen und unterschiedlichen Gesellschaften und auch unterschiedlich stark gelockerten Maßnahmen.

Das könnte daraufhin deuten, dass es ohne Kontaktbeschränkungen nicht möglich ist, das Virus in der kalten Jahreszeit unter Kontrolle zu halten. Zumindest derzeit. Der breitflächige Einsatz von Antigentests, der vor allen bei präsymptomatischen Personen mit hoher Viruslast gute Ergebnisse liefern dürfte, könnte für die Zukunft ein Schlüssel sein. Kanzler Sebastian Kurz hat solche Massentests am Sonntag auch bereits avisiert.

Auch über digitales Contact Tracing in Form einer App wird wieder zu diskutieren sein, da die behördliche Kontaktverfolgung auch im günstigen Fall zu langsam sein könnte. Nur in Finnland ist in Europa eine Tracing-App auf Akzeptanz gestoßen, innerhalb nur einer Woche lud sich ein Drittel der Bevölkerung diese App aufs Handy. Und Finnland hat bisher keine zweite Welle erlebt.

Die zweite Frage ist aber, warum Österreich doch relativ spät in den Lockdown ging. Die Begründung dafür war, wie im März, die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Durch rechtliche Anpassungen ist dies im Herbst auch eine Voraussetzung für ein solches Vorgehen gewesen. Doch nicht nur das Gesetz, auch das Infektionsgeschehen war im Frühling ein anderes. Damals hatte sich alle zwei bis drei Tage die Zahl der Infizierten verdoppelt. Wer der Exponentialrechnung mächtig war, konnte sich rasch ausrechnen, was das bedeutet: 1.000, 2.000, 4.000, 8.000, 16.000, 32.000 und so weiter. Österreich legte die Vollbremsung hin, und das Virusgeschehen kam zum Stehen, noch lange vor dem drohenden Aufprall.

Rätselhafter Anstieg der Wachstumsrate

Der Herbst war anders. Statt täglicher Wachstumsraten von 40 Prozent und mehr, ging es schleichend und augenscheinlich stabil hinauf. Mitte Juni, damals noch bei sehr niedrigen Fallzahlen, setzte das Wachstum wieder ein. Das heißt, jeden Tag infizierten sich mehr Menschen, als wieder genasen. Die Zahl der aktiven Fälle nahm täglich zu, doch das Wachstum lag fast immer unter 5 Prozent und der geglättete Durchschnittswert über sieben Tage kein einziges Mal über 4 Prozent.

Nach dem urlaubsbedingt kurzen Aufleuchten des Virus Anfang September gelang es auch durch ein paar Verschärfungen (private Veranstaltungen wurden eingeschränkt), die kurzfristig erhöhten Wachstumsraten wieder zu drücken. Sie verharrten dann im September und Oktober unter der 3-Prozent-Marke.

Was dann passierte, sollte Anlass für genaue epidemiologische Untersuchungen sein. Denn sehr plötzlich, innerhalb weniger Tage, stiegen die täglichen Wachstumsraten an. Und das, obwohl die Regierung am 19. Oktober wieder auf die Bremse stieg und lose, private Veranstaltungen noch weiter einschränkte. Doch es war, als hätte man versehentlich das Gaspedal erwischt. Die Wachstumsrate stieg auf vier, auf fünf, auf mehr als sechs Prozent. Das klingt nicht viel, macht aber einen enormen Unterschied. Auch mit einem konstanten Wachstum von 3 Prozent wäre irgendwann der Aufprall passiert, aber langsamer. Österreich hätte in diesem Fall die Grenze der 5.000 Neuinfektionen pro Tag noch nicht überschritten und könnte in aller Ruhe über das verhältnismäßige Ausmaß von Kontaktbeschränkungen diskutieren. Doch drei Wochen Ende Oktober und Anfang November überwarfen alle Planungen und Prognosen.

Etwas zu lange Reaktionszeit

Die Regierung reagierte aber mit Verzögerung. Ob die etwas zu lange Reaktionszeit auf koalitionsinterne Konflikte, auf die geänderten rechtlichen Rahmenbedingungen oder auf politisches Zaudern zurückzuführen ist, wird auch noch zu untersuchen sein. Am 29. Oktober, einem Donnerstag, hatte die Regierung in einer Pressekonferenz nicht neue Maßnahmen angekündigt, sondern nur eine weitere Pressekonferenz für Samstag. Wichtige Zeit verging.

Der Teil-Lockdown folgte dann weitere drei Tage später und nach einem vermutlich ausgelassenen Halloween-Wochenende, wie Tageshöchstzahlen an Infektionen zehn Tage danach offenbarten. Die Regierung entschied, doch die Vollkontaktbeschränkung zu erlassen, und zwar noch bevor der Teil-Lockdown seine volle Wirkung entfalten konnte. Kanzler Kurz sprach sogar am Samstag noch von "12 bis 14 Tagen", die nach dem Teil-Lockdown eingeplant worden seien, bis die Fallzahlen sinken. Als der volle Lockdown jedoch verkündet wurde, zählte man erst Tag elf.

Seit Freitag sinkt nun tatsächlich die Inzidenz an Corona-Fällen. Ob das nun die Wirkung des Teil-Lockdowns ist oder nur eine kleine Schwankung, wird diese  Woche zeigen. Und auch eine erste Antwort erlauben, ob die Verschärfung wirklich unausweichlich war.