Die rasante Entwicklung effektiver Impfstoffe gegen Covid-19 ist für die Macher des Fachmagazins "Science" der wichtigste Forschungsdurchbruch des Jahres. Chefredakteur H. Holden Thorp zufolge sei erst in den Wochen vor Redaktionsschluss klar geworden, dass sich die Hoffnung bewahrheiten würde. Schon kommende Woche soll in Europa das erste Vakzin, jenes von Biontech/Pfizer, zugelassen werden.
"Weniger als ein Jahr, nachdem Sars-CoV-2 aufgetaucht ist, haben Forschende dieses Ziel erreicht. Noch nie haben so viele Konkurrenten so offen und kontinuierlich zusammengearbeitet. Und noch nie haben Regierungen, Industrie, Wissenschaft, Non-Profit-Organisationen so viel Geld, Muskeln und Hirnschmalz in so kurzer Zeit in die Erforschung einer Infektionskrankheit investiert", so die Begründung. Corona-Impfungen seien der versöhnliche Ausklang eines beschwerlichen Jahres und gäben die Perspektive, dass das schaurige Pandemie-Spektakel irgend wann enden würde.
Messung von Wirksamkeit

Welche Impfstoffe gibt es? Gehen beschleunigte Zulassungsverfahren auf Kosten der Sicherheit? Fragen wie diese werden intensiv diskutiert. Starten wir mit den Grundprinzipien. Impfstoffforschungist eine Abwägung zwischen Geschwindigkeit und Dringlichkeit. Eine Krankheit mit vielen Fällen und einer hohen Ansteckungsrate wie Covid-19 ist leichter auf Effektivität zu testen als eine mit wenigen Fällen, weil es naturgemäß mehr Probanden gibt. Um die Wirksamkeit eines Impfstoff-Kandidaten zu messen, bekommt eine Gruppe von Personen das Vakzin und eine andere ein Placebo. Der Vergleich ergibt die Effektivität: Wenn sich in der Placebo-Gruppe 100 von 100 Probanden anstecken und in der Gruppe der Geimpften nur 5, dann ist die Effektivität 95 Prozent.
Um sich zu vergegenwärtigen, wie leicht sie sich messen lässt, stelle man sich karierte A4-Blätter mit je 1.000 Kästchen vor. Bei einer seltenen Krankheit, die in hohem Ausmaß tödlich ist, etwa Japan B Enzephalitis, würden sich vielleicht fünf nicht geimpfte Quadrate pro Blatt anstecken und von den Geimpften vielleicht nur eines. Da eins von fünf aber keinen statistischen Zusammenhang ergibt, müsste man die Zahl der A4-Blätter (sprich der Probanden) vervielfachen: 106 zu, sagen wir, 518 Infizierten lassen schon eher auf einen über den Zufall hinausgehenden Zusammenhang schließen.
Wirkungsweisen im Detail
Bei Corona würden sich auf einem A4-Blatt mit 1.000 Kästchen 200 Nichtgeimpfte anstecken. Eine Impfung mit 95 Prozent Effektivität wie bei Biontech/Pfizer ergäbe auf dem Papier der Geimpften nur 20 Kästchen und damit schneller eine statistisch relevante Anzahl.
Zahlreiche Impfstoffkandidaten gegen Corona wurden auf diese Weise getestet. Die meisten Wirkprinzipien waren bekannt, andere sind neu. Der wohl innovativsten Technologie haben sich die Pharmaunternehmen Pfizer/Biontech, Moderna und Curevac verschrieben. Für ihre RNA-Impfstoffe wird Boten-RNA (m-RNA) künstlich hergestellt und mit einer Art Steckbrief des Virus versehen.
Jede Zelle ist zu jeder Zeit voll von m-RNA. Sie fungiert als Botenstoff zur Bildung von Proteinen. Mit dem Bauplan des Virus versehen, regt sie - einmal in den Körper injiziert - die Zelle zur Bildung des Spike-Proteins an. Dieses sitzt normalerweise an der Oberfläche der Sars-CoV-2-Viren und knackt die Tür zu den Zellen, die sie infizieren. Doch wenn der Impfstoff die Zelle zur Produktion des Spike-Proteins anregt, erzeugt das Immunsystem Antikörper gegen dieses Eiweiß. Es steht Gewehr bei Fuß, sollte ein Virus eindringen.
Keine Erbgutveränderungen
Mit Befürchtungen, dass diese Art von Impfung Erbgutveränderungen verursachen könnte, räumt der in den USA tätige österreichische Vakzinologe Florian Krammer auf. Die m-RNA werde zwar aus dem Erbgut in der Zelle gebildet, könne aber nicht wieder in die DNA integriert werden. "Es ist eine Einwegstraße", erklärt Krammer in einem YouTube-Video. Anders ist es, wenn Sars-CoV-2 eine Zelle erobert. "Die Viren übernehmen die Zellen komplett und programmieren sie um."
Die Pharmakonzerne AstraZeneca sowie Johnson & Johnson setzen auf virale Vektorimpfstoffe. Als Träger fungiert ein Erkältungsvirus, das nicht mehr krank macht, da ein Stück seines Genoms entfernt wurde, wodurch es sich nicht mehr in der Zelle vermehren kann. Der Ausschnitt wird durch Information des Sars-CoV-2-Spike-Proteins ersetzt. In den Körper injiziert, docken die viralen Vektoren an die Zellen an und geben ihnen damit die nötige Information, damit sie das Gebilde als fremd erkennen und eine Immunantwort erzeugen.
Inaktivierte Virusimpfstoffewerden gegen Polio, Influenza und Hepatitis A verabreicht und zählen zu den ältesten Technologien. Dabei werden die Viren isoliert, vermehrt, chemisch abgetötet und schließlich als Vakzine eingesetzt. Den Ansatz verfolgen Sinovac in China und das französisch-österreichische Unternehmen Valneva. Einmal geimpft, produzieren die Immunzellen Antikörper und schützen. In Entwicklung, aber noch nicht in finalen klinischen Studien, befinden sich abgeschwächte Impfstoffe. Bei diesem Prinzip, das das Wiener Unternehmen Themis Bioscience mit dem US-Konzern Merck verfolgt, wird ein normales Virus auf tierischen Zellen zu einer Mutation angeregt, sodass es im Menschen nicht mehr wachsen und die Erkrankung nicht verursachen kann.
Bei rekombinanten Proteinimpfstoffen wiederum wird ein Erbgutbaustein von Sars-CoV-2 in Zellen eingebracht, die in einem Bioreaktor das Spikeprotein herstellen. In gereinigter Form wird es injiziert. Die auftretende Antikörperantwort schützt vor einer Infektion. Der US-Konzern Novavax wendet es an.
Nicht alle sehen Corona-Impfungen nur als Segen. Etwa besteht eine Angst, dass in beschleunigten Verfahren etwaige Nebenwirkungen unzureichend erforscht werden. Experten zufolge ist diese Angst unbegründet. "Das Zulassungsverfahren wurde vollkommen regulär abgewickelt, keine Kürzungen", sagt der Wiener Infektiologe Herwig Kollaritsch zur "Wiener Zeitung".
Beschleunigte Verfahren
Normalerweise kann die Impfstoffentwicklung bis zu 15 Jahre dauern. Sie beginnt in einem akademischen Forschungslabor. Geht die Tüftelei auf, kann das Mittel zusammen mit einer Firma zwei bis vier Jahre später in einer Phase-I-Studie auf Sicherheit und Immunantwort getestet werden, danach wird der Test in Phase II mit mehreren 100 Probanden wiederholt. Vor der teuersten Phase III werden Kosten und Nutzen kalkuliert und Markt- und Erfolgskriterien festgelegt. Bei Erfolg wird die Zulassung, wie jetzt bei der Europäischen Zulassungsbehörde (EMA), zur Prüfung eingereicht. "Bei Sars-CoV-2 ist die Design- und Versuchsphase entfallen, weil man auf Arbeiten zu den Coronaviren Sars und Mers aufbauen konnte. Man kannte das Spike-Protein als Antigen, konnte Prozesse von anderen Vakzinen übernehmen und Studienphasen parallel durchführen", so Krammer.
Gefährliche Nebenwirkungen
Dass es unternehmerischer Selbstmord sein könnte, gleichzeitig mit der Produktion zu beginnen, schob man aufgrund der Gesamtsituation einer zweiten Welle, bei der weltweit sehr viele Leute pro Tag sterben, beiseite. Und da das Virus stark zirkuliert, gab es genügend Probanden und ausreichend Daten für Zulassungsanträge.
"Man darf sich das auf keinen Fall so vorstellen, dass die Behörden die Zulassung einfach durchwinken", betont Krammer. "Jedoch nimmt man in Kauf, dass die Wirksamkeit erst zwei Monate nach der zweiten Dosis gemessen wurde." Das heißt, dass Phase-III-Studien verlängert werden. Pfizer hat angekündigt, seine Tests auch nach der ab Montag geplanten Zulassung fortzusetzen.
Schwerwiegende Impfschädensind normalerweise selten. Eines von 18.400 Kindern erlitt Narkolepsie ("Schlafkrankheit" nach einer Impfung gegen Influenza-A (H1N1). Bei zwei von 200.000 Personen tritt nach einer Influenza-Impfung das Guillain-Barree-Syndrom auf. Nach der Polio-Schluckimpfung, die die Kinderlähmung aus der Welt verbannt hat, erkrankten zwei bis drei von einer Million Kindern an Polio. Bei Corona-Impfstoffen wurde noch nichts Derartiges festgestellt. Jedoch sind beim Vakzin von Biontec/Pfizer in Einzelfällen allergische Schocks als Reaktion aufgetreten, was bei Modernas Version nicht passiert sein soll.