Der Internist Richard Greil gilt als einer der führenden Krebsspezialisten des Landes. Er leitet die Onkologie an der Universitätsklinik Salzburg. Seine Station, die auch eine Infektiologie umfasst, verfügt normalerweise über 150 Betten, vor allem für Patientinnen und Patienten mit diversen Krebserkrankungen. Bis vor wenigen Tagen waren 100 zusätzliche Betten voll belegt und dies für eine einzige Infektionserkrankung: Covid-19.
Für Greil und das Team auf seiner Station hat das unter anderem bedeutet, dass manchmal mehr als ein Dutzend Erkrankte an einem Tag gestorben sind. Das ist schon ungewöhnlich viel. "Wir werden da auch eine Nachbetrachtung im gesamten Gesundheitssystem benötigen", sagt Greil. Viele Pfleger und Ärztinnen, die von anderen Stationen abgezogen wurden, hatten ein solches Sterben noch nie erlebt.
Bis Mittwoch sind offiziell 5.540 Personen an den Folgen dieser Erkrankung gestorben. Österreich verzeichnet seit Mitte November eine erhebliche Übersterblichkeit, wie die Daten des Euromomo-Netzwerks sowie der Statistik Austria zeigen. Das heißt, in den vergangenen Wochen starben deutlich mehr Menschen als in den letzten Herbstwochen der vergangenen Jahre. Zum Beispiel sind allein in der Kalenderwoche 49 (ab 30. November) 2.263 über 65-jährige Menschen in Österreich gestorben. In den Vorjahren waren es in dieser Woche selten mehr als 1.400.
Eine Übersterblichkeit über ein paar Wochen ist grundsätzlich nichts Ungewöhnliches. So lassen sich etwa Grippe-Wellen im Winter und Hitze-Wellen im Sommer erkennen. Österreich hat zuletzt im Winter 2016/17 eine schwere Grippe-Epidemie mit hoher Übersterblichkeit erlebt. Nicht ganz überraschend war im Jahr davor damals die Grippe-Saison außergewöhnlich mild ausgefallen.
Der Grund dafür ist banal: Es sind vor allem die ganz Betagten, die ein sehr hohes Risiko haben, an Influenza zu sterben. Wenn die Grippe-Saison einmal sehr mild ausfällt, gibt es im Jahr darauf mehr Personen in der absoluten Risikogruppe. Ähnliches zeigt sich auch innerhalb eines Jahres, wenn einem Peak wegen extremer Hitze eine Phase mit Untersterblichkeit folgt.
Auch bei Covid-19, der vom Coronavirus verursachten Erkrankung, steigt das Sterberisiko mit zunehmendem Alter. Die Fallsterblichkeit liegt in der Gruppe der 90-Jährigen bei über 20 Prozent. Das heißt, eine von fünf mit Sars-CoV-2 infizierten Personen überlebt in dieser Altersgruppe die Corona-Infektion nicht.
Vor allem die Pflegeheime stehen in diesem Zusammenhang im öffentlichen Fokus. Die Zahl der Covid-Toten in diesen Einrichtungen ist hoch, erst am Montag wurden große Ausbrüche in zwei Heimen in Niederösterreich bekannt. Bei den Bewohnerinnen und Bewohnern handelt es sich um eine besonders vulnerable Personengruppe, sie wird deshalb auch als Erste mit Impfungen versorgt.
Eine Übersterblichkeit in Pflegeeinrichtungen zeigt sich auch in den Daten der Statistik Austria für die vergangenen Wochen. Doch auch ohne Covid-19 sterben dort jedes Jahr viele. In den ersten 49 Wochen des Vorjahres gab es 19.304 Sterbefälle in Pflegeheimen, in diesem Jahr wurden für diesen Zeitraum bisher 20.928 Sterbefälle gemeldet. (Diese Zahl dürfte sich aufgrund von Nachmeldungen noch erhöhen). Der Krisenstab im Innenministerium berichtete zuletzt von 1.967 tödlichen Covid-19-Fällen in Pflegeheimen seit September.
Altersgruppen mit unterschiedlichen Risiken
Zu beachten ist daher auch das generelle Sterberisiko für bestimmte Personengruppen. Aus der Sterbetafel des Vorjahres lässt sich ablesen, dass das Risiko zu versterben für über 90-Jährige bei 25 Prozent lag. Statistisch starb also einer von vier Menschen, die das 90. Lebensjahr überschritten hatten. Zur Erinnerung: Wer sich aus dieser Gruppe mit dem Coronavirus infiziert, stirbt in Österreich derzeit mit einer 20-prozentigen Wahrscheinlichkeit.
Dem gegenüber betrug das allgemeine Sterberisiko bei 75- bis 79-Jährigen im Vorjahr 2,9 Prozent. Wer sich allerdings aus dieser Altersgruppe mit Corona infiziert, ist mit einer statistischen Fallsterblichkeit von 7,3 Prozent konfrontiert. Einer von 13 also.
Bei der Interpretation dieser beiden statistischen Wahrscheinlichkeiten ist Vorsicht geboten. Das allgemeine Sterberisiko umfasst sämtliche Ursachen, die Covid-Fallsterblichkeit bezieht sich hingegen nur auf diese konkrete Infektion, die bisher offiziell bei 339.933 Personen in Österreich nachgewiesen wurde. Die beiden Werte können also nicht direkt miteinander verglichen werden, sie taugen aber durchaus für die individuelle Risikoabschätzung. Welches Risiko habe ich allgemein? Welches im Fall einer Infektion mit Corona?
Denn eine Beobachtung, von der Ärzte aus Covid-Stationen berichten, ist, dass an Covid-19 ungewöhnlich viele "jüngere Alte" sterben, die eigentlich auch recht fit sind; die vielleicht etwas Bluthochdruck aufweisen, was jedoch keine ungewöhnliche Vorerkrankung darstellt und auch gut behandelbar ist. Es sind Mitte-70- und 80-Jährige, die sich vielleicht auch selbst gesund für ihr Alter fühlen, die aber ihre Covid-Erkrankung trotzdem nicht überleben. Wer, warum, wie schwer erkrankt, ist oftmals ein Rätsel.
Das Coronavirus kann mehrere Organe befallen. Hauptursächlich für Todesfälle sind aber die Folgen der schweren Lungenentzündung, wie Greil erzählt. "Vier Prozent erleiden auch einen Schlaganfall", sagt er. Das Virus kann unter anderem auch in den Lungen Blutgerinnsel auslösen. Unter anderem deshalb werden schwer erkrankten Patienten in Spitälern blutverdünnende Medikamente verabreicht.
Sterblichkeit sank dank besserer Behandlung
Michael Joannidis, der Leiter der Intensivmedizin für Innere Medizin der Uniklinik Innsbruck, berichtet auch von einer virusbedingten Immunsuppression. Der Sars-CoV-2-Erreger unterdrückt das Abwehrsystem, wodurch etliche andere Infektionen und Entzündungen auftreten. Auch das kann Ursache für sehr schwere Verläufe bis hin zum Tod sein.
Zwar gibt es bisher noch keine wirksame Therapie gegen das Coronavirus, doch die Medizin hat seit dem Frühling viel dazugelernt. Die Sterblichkeit hat sich dadurch in allen Altersgruppen reduziert. Das betrifft auch die Intensivmedizin, die jüngste Auswertung des Gesundheitsministeriums zeigt, dass die Mortalität bei jüngeren Intensiv-Patienten bei Covid-19 (bis 64 Jahren) bei durchschnittlich 16 Prozent liegt. Das heißt, 84 Prozent überleben diese schwersten Verläufe dank der intensivmedizinischen Behandlung. Bei Älteren ist es allerdings nur mehr die Hälfte, wobei ganz Betagte in der Regel gar nicht auf Intensivstationen behandelt werden - nicht aus Kapazitätsgründen, sondern, weil sie die dafür nötige körperliche Konstitution nicht mehr mitbringen.
Gestorben wird aber nicht nur im Spital und längst nicht nur in Intensivstationen, wie Greil sagt. Die gemessene Übersterblichkeit liegt auch etwas außerhalb des Bereichs der offiziell bekannten Covid-Sterbefälle. Unsicher ist, ob die Differenz auf eine Untererfassung von Covid-Sterbefällen zurückzuführen ist oder auf Kollateralschäden, weil etwa durch die Belegung der Krankenhäuser mit Corona-Patienten andere Erkrankte nicht ausreichend behandelt werden können.
Klar definierte Falldefinition für Todesfälle
Erfahrungen aus dem Frühling deuten eher auf Ersteres hin, wie Greil sagt. "In der ersten Phase der Pandemie hatten wir keine Übersterblichkeit, auch nicht durch Kollateralschäden." Damals waren die Spitäler zwar nicht derart überlastet, allerdings wurden zahlreiche Stationen und Ambulanzen über Wochen aus Vorsorge geschlossen.
Sein Kollege aus Innsbruck, Michael Joannidis, glaubt - aus anderen Gründen - hingegen an eine leichte Übererfassung. Bei Covid-19 handelt es sich nämlich um eine meldepflichtige Erkrankung. Österreich hält sich dabei an die Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO, wonach alle Todesfälle innerhalb von 28 Tagen nach labordiagnostischem Sars-CoV-2-Nachweis als Covid-Sterbefälle gemeldet werden müssen. Bei der saisonalen Grippe werden tatsächlich nur wenige Fälle labordiagnostisch abgeklärt, die Zahl der Grippe-Todesfälle wird über die Übersterblichkeit geschätzt. Gerade in der Gruppe der sehr Betagten können auch "banale Infekte" zum Tod führen, wie Joannidis sagt. Diese werden aber meistens nicht als ursächlich für den Tod bewertet.