Mutationen sind eine echte Doppelmühle: Auf der einen Seite machen sie ein Virus tendenziell immer besser  und damit vielleicht gefährlicher, auf der anderen Seite sind sie für die Forschung eines der präzisesten Instrumente, um überhaupt zu verstehen, woher Sars-CoV-2 kam und wie es sich verbreitete.

Diese Wege nachzuvollziehen, ist wichtig. Letztlich geht es darum, die eine Tierart zu identifizieren, von der diese Pandemie ausging. "Sonst besteht die Gefahr, dass wir diese Tiere mit der menschlichen Form von Sars-CoV-2 infizieren, das Virus dort mutiert, wieder auf uns überspringt und wir wiederum keine Immunität gegen die neuen Mutationen haben", sagt Tanja Stadler.

B.1.117 und B.1.351 sind nur zwei von Tausenden Varianten

Tanja Stadler ist Mathematikerin und forscht an der ETH Zürich, am Department für Biosysteme in Basel. Wöchentlich werden dort bis zu 1.500 Proben aus der ganzen Schweiz sequenziert. Die Forscher suchen nach Veränderungen im Erbgut des Virus, nach Mutationen, und vergleichen die Genome mit den bereits bekannten Varianten von Sars-CoV-2. Sie wollen wissen, welche Varianten in der Schweiz dominieren, und nachvollziehen, wie sich das Virus verbreitet.

Von Sars-CoV-2 gibt es inzwischen vermutlich Tausende von Varianten. Das Bild seiner Abstammung, wie man es in der Sequenzdatenbak Gisaid findet, ist ein vielädriges unübersichtliches Geflecht sich stetig verzweigender Linien.

Am Ursprung dieses Geflechts der eine bekannte gemeinsame Vorfahr, zunächst "WH-Human 1" genannt, nunmehr A und der Beginn des sogenannten Pangolin-Baums mit der Abkürzung "B" – daher auch das Initial B in den mittlerweile berüchtigten britischen und südafrikanischen Varianten.

Die Nomenklatur ist etwas irreführend, denn "Pangolin" steht nicht für das Tier, sondern für Phylogenetic Assignment of Named Global Outbreak LINeages und meint somit nicht, dass das Schuppentier der Zwischenwirt war, von dem die Pandemie ausging. Anhand des Erbguts zu rekonstruieren, wann und wo Sars-CoV-2 entstand, ist Aufgabe der Phylogenetik. Indem sie analysiert wie nah oder fern verschiedene Stämme miteinander verwandt sind, macht sie die Evolution des Virus sichtbar.

Stadler hat erst kürzlich eine Studie zur ursprünglichen Verbreitung von Sars-CoV-2 in Europa publiziert. Diesen Forschungen an der ETH Zürich zufolge wurde Sars-CoV-2 mehrmals nach Europa gebracht, unter anderem zum Beispiel im Januar durch eine Mitarbeiterin eines Unternehmens in Bayern, die aus Shanghai angereist war. Ihre Eltern aus Wuhan hatten sie zuvor besucht. Die Infektionen in Bayern blieben allerdings räumlich beschränkt.

Für Europa begann der Ausbruch in Italien

Der große Ausbruch in Europa, so rekonstruierten Stadler und ihre Forschungskollegen anhand der Genome des Coronavirus, ging von Italien aus. "Nachdem die Zahlen im Februar 2020 in Italien so hochgeschossen waren, gab es keine Chance mehr, das Virus einzudämmen", resümiert Stadler. Die Reisebeschränkungen und Grenzschließungen kamen in dem Fall zu spät, das Virus hatte sich bereits lokal verbreitet.

Phylogenetische Analysen, wie Tanja Stadler sie durchführt, sind eine Ergänzung zum Contact-Tracing und ganz wesentlich, um die Evolution des Virus zeitlich und räumlich nachvollziehen zu können. Jede Probe, die in Basel erfolgreich analysiert wird, wandert deshalb in die Gisaid-Datenbank, wo sie für derartige Analysen anderer Forschungsgruppen weltweit zur Verfügung steht.

Mehr als 150.000 Virus-Genome wurden durch Gisaid bisher online geteilt.
Weil Sars-CoV-2 mit einer bestimmten Rate mutiert – man geht von einer Mutation etwa alle vierzehn Tage aus – lässt sich anhand der Vergleiche feststellen, wie alt eine Variante ist. Je mehr Mutationen sie in sich trägt, desto weiter ist sie vom ursprünglichen Sars-CoV-2-Virus entfernt. "Wenn wir dann noch geografisch eingrenzen können, wo bestimmte Varianten gehäuft auftreten, können wir bestimmen, woher eine Variante kam", erläutert Stadler.

Varianten mit leichterer Transmission setzen sich durch

Das Referenzgenom für die Vergleiche ist jenes aus Wuhan. Die ersten Sequenzierungen des Virus sind einander noch sehr ähnlich. Bald schon wurden die Genome immer schneller immer vielfältiger, der Abstammungsbaum von Sars-CoV-2 immer verzweigter. Der "Wildtyp" oder das Original des Virus macht laut einer britischen Studie mittlerweile einen immer geringeren Anteil des aktuellen Infektionsgeschehens aus. Er wird durch erfolgreichere Varianten wie eben B.1.117, das zum ersten Mal in Großbritannien aufgetreten war, allmählich ersetzt.

"Wenn ein Virus leichter übertragbar ist, dann wird sich dieser Typ längerfristig durchsetzen", sagt Stadler. Zu diesem Zeitpunkt noch Mobilitätsbeschränkungen umzusetzen, kann aber dennoch sinnvoll sein: "Man gewinnt dadurch Zeit", so Stadler. Zeit, um zum Beispiel die notwendigen Kapazitäten auf den Intensivstationen zu schaffen oder um Risikogruppen noch zu impfen.

Machen  Lockdowns und Impfungen das Virus "besser"?

Ob Impfungen oder Lockdowns auf der anderen Seite das Virus weiter unter Selektionsdruck bringen und damit Varianten hervorbringen, die noch ansteckender sind oder noch besser geeignet, den Antikörpern zu entkommen, ist eine Frage, die unter anderem von Luisa Cochella vom Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP) in einem Gespräch mit der Austria Presse Agentur aufgeworfen wurde. Ob das so ist oder nicht, lässt sich nicht einfach und vor allem nicht kurzfristig klären. Noch ist zum Beispiel nicht klar, wie weit die Südafrika-Variante schon verbreitet ist, und es ist auch nicht abschließend geklärt, welche Eigenschaften sie hat. Viele ihrer Mutationen finden sich auch in der britischen Variante, die dabei ist, alle anderen zu verdrängen.

Während der Zeitpunkt des Spillovers des Coronavirus relativ genau bestimmbar ist, bleiben Ort und Zwischenwirt ein Rätsel. "Es ist unwahrscheinlich, dass das Virus von verschiedenen Tieren übergesprungen ist", so Stadler. Wenn es mehrere Quellen geben würde, hätte man größere Unterschiede in den Sars-CoV-2-Viren in den Menschen gefunden. "Die Daten deuten darauf hin, dass es nur ein Spillover-Event gab. Es kann sein, dass eine Fledermaus mehrere Pangolin oder eine andere Tierart infiziert hat, aber eines hat den Menschen infiziert und damit die ganze Pandemie ausgelöst. Und das ist irgendwann vor mehr als einem Jahr, im November oder Anfang Dezember 2019, geschehen", so Stadler.

Der Ursprung ist nach wie vor unbekannt

Wissenschafter sind lang schon auf der Suche nach den Vorläufern von Sars-CoV-2 in der Fledermaus und in anderen Tieren. Beinahe täglich werden solche Vorläufer gefunden. Fledermäuse sind das Reservoir einer Vielzahl von Viren und auch von Coronaviren, die Sars-CoV-2 sehr ähnlich sind. Aber "Tier X" ist nach wie vor die große Unbekannte.
Unterdessen ist auch eine neue, womöglich wiederum infektiösere Variante des Virus aufgetaucht. Diesmal in Brasilien am Amazonas, in der Region Manaus. Der brasilianische Gesundheitsminister hat entsprechend gewarnt. Bisher liegen aber noch keine Daten vor.