Ein Eintrittstest für den Friseur, ein Austrittstest, um aus einer Stadt reisen zu dürfen, ein Test, der es einem erlaubt, seiner Arbeit nachzugehen. Getestet wird auch, um dem Schulunterricht beiwohnen zu dürfen. All diese aufwendigen Individualmaßnahmen könnten mit einem Schlag der Vergangenheit angehören. Denn das Abwasser verrät, wie hoch die Infektionsrate in einer Region ist. Das österreichische Konsortium Coron-A hat ein erfolgreiches Vorhersage-Tool für die Verbreitung von Sars-CoV-2 innerhalb der Bevölkerung geschaffen. Freilich wäre ein flächendeckender Ausbau notwendig, um sich tatsächlich die Heerscharen an Nasenbohrern zu ersparen.
Es war der April 2020, als es zwei österreichischen Forschergruppen - einer Gruppe um Heribert Insam von der Universität Innsbruck und dem Team von Norbert Kreuzinger an der TU Wien - gelungen war, das Erbmaterial von Sars-CoV-2 im Zulauf von zwei österreichischen Kläranlagen nachzuweisen. Die seit damals verfolgten Projektziele sind mittlerweile erreicht worden, berichtet der Tiroler Forscher im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Einerseits wurde das Netzwerk österreichweit auf eine große Zahl an Kläranlagen ausgeweitet. Andererseits ist es gelungen, das Tool weiterzuentwickeln und die Analyseprozesse zu beschleunigen. Mittlerweile können die fertigen Messwerte innerhalb von 30 Stunden in die Datenbank einfließen, betont Insam.
Mutanten entdecken
Derzeit finden Probeentnahmen im Schnitt alle 3,5 Tage statt, in den Bundesländerhauptstädten täglich. Im Abwasser finden sich inaktive Viren und mittels Sequenzierung, um die sich die Gruppe um Andreas Bergthaler im Forschungszentrum für Molekulare Medizin (Cemm) kümmert, können auch Virusmutationen ausfindig gemacht werden.
"Gesucht wird im Forschungsprojekt Coron-A nach der RNA des Virus und nach einem Indikatorgen, das auf dem Nukleidcapsin codiert", erklärt der Mikrobiologe Insam. Das Nukleidcapsin umhüllt die Viren-RNA und schützt diese während des Transports im Kanalsystem. Um das Vorhersage-Tool sicher zu machen, braucht es nicht nur Fingerspitzengefühl, sondern auch passende Auswertungsparameter. Denn: "Wir haben eine große Datenvariabilität", betont Insam. Regnet es, kommt es nämlich zu einer Verdünnung. Bei Hitze hingegen wird das Virus im Abwasser schneller abgebaut.
Zudem leiten auch Firmen regelmäßig ihre Abwässer in die Kläranlagen, wodurch sich der Populationsindikator für die Auswertung verändert. Wird Ammonium mitgemessen, geht man in der Berechnung nämlich davon aus, dass ein Mensch etwa acht Gramm Ammonium pro Tag abgibt. Doch auch Molkereien oder Käsereien hinterlassen große Spuren dieses Stoffes. All diese Komponenten müssen in die Berechnungen und Prognosen miteinfließen. Die Virensequenzierung wiederum macht es möglich, zu erkennen, wie viele und welche Mutationen mit welcher Konzentration im gesamten Virenpool, das sich im Wasser befindet, enthalten sind.
Die Daten lassen sich dann auch grob auf die Bevölkerung hochrechnen. "Wobei es möglich erscheint, dass die neuen Varianten ein erhöhtes Abwassersignal bewirken, was auf gesteigertes Ausscheideverhalten zurückgeführt werden könnte", betont Insam. Das bedeutet, dass pro Person mehr inaktive Erreger enthalten sind. Die Prognoseinstrumente müssen daher regelmäßig mit Blick auf diese Erkenntnisse angepasst werden.
Verlaufskurven erheben
Mit Coron-A stehen die heimischen Forscher weltweit in führender Position. Initiator der österreichischen Erfolgsstory war Rudolf Markt, ein junger Dissertant am Institut für Mikrobiologie der Uni Innsbruck. "Er hatte die Idee, sich die Pandemie abwasserepidemiologisch anzuschauen", so Insam. Markt habe dazu auch das molekularbiologische Know-how mitgebracht. Die Fördergeber sind das Wissenschafts- und das Landwirtschaftsministerium.
In Tirol besteht dieses Monitoring schon seit geraumer Zeit unter wissenschaftlicher Begleitung durch Herbert Oberacher von der Meduni Innsbruck. Die Daten aus 30 Kläranlagen im Coron-A-Projekt stehen schon jetzt den Krisenstäben in den Bundesländern zur Verfügung. "Es ist ein Werkzeug unter mehreren, das den Krisenstäben Zusatzinformationen liefern soll." Die errechneten Verlaufskurven dienen als Grundlage, um Entscheidungen für oder gegen bestimmte Maßnahmen besser treffen zu können. "Kommt es zu einem Anstieg, ist das ein Warnsignal", so Insam. Bei den vom Forscher betreuten Kläranlagen in Vorarlberg, Kärnten und Salzburg würden die Werte derzeit relativ weit unten liegen. In Ostösterreich sehe es hingegen anders aus.
Trotz der allgemein kritischen Situation blüht das Forscherherz auf: "Die darwinistische Entstehung der Virenvarianten ist hier wie in einem Lehrbuchbeispiel durchexerziert", was für den Umweltmikrobiologen unglaublich "interessante Erkenntnisse" mit sich bringt.