Es stimmt, dass Kinder und Jugendliche weniger oft an Covid-19 erkranken. Und es stimmt auch, dass ihr Risiko, an dem Virus zu sterben, um vieles geringer ist. Konkret sind laut Markus Zeitlinger, Leiter der Universitätsklinik für Klinische Pharmakologie an der MedUni Wien, seit Beginn der Pandemie Ende 2019 weltweit fast vier Millionen Kinder erkrankt und etwas mehr als 300 gestorben. Zum Vergleich: Insgesamt gab es rund 170 Millionen Infektionen mit Sars-CoV-2, und 3,5 Millionen Menschen sind durch das oder mit dem Virus gestorben.
Und dennoch tritt Österreichs Nationales Impfgremium (NIG) dafür ein, künftig immer Jüngere zu impfen: Nach der Empfehlung der EU-Arzneimittelbehörde EMA für eine Freigabe des Covid-19-Impfstoffs von Biontech/Pfizer für 12- bis 15-Jährige ist am Ende der Vorwoche das NIG dieser Entscheidung gefolgt. Kinder sollen nun genauso wie in den anderen Altersgruppen entsprechend den Risikogruppen priorisiert werden. Bewohner von Behinderteneinrichtungen zum Beispiel sollen demnach zuerst und gesunde Kinder "absteigend nach Alter" zu ihrer Impfung kommen. Die finale Entscheidung der Zulassung muss nun noch von der Europäischen Kommission gefällt werden, das gilt aber als Formsache.
"Gesundheitsschutz klären"
Die Detailplanung für diese Zielgruppe von insgesamt 340.035 Personen ist laut Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) "gemeinsam mit dem Bildungsministerium und den Bundesländern bereits weit fortgeschritten". Informationskampagnen für die Eltern sollen in den nächsten Wochen anlaufen. Auch Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hatte den Antrag von Biontech/Pfizer auf Zulassung begrüßt. Ausreichend Impfstoff sei vorhanden, um alle Österreicher ab zwölf Jahre im Sommer zu impfen, sagte er. In den USA und Kanada wird der Impfstoff bereits seit rund zwei Wochen an diese Altersgruppe verimpft. Zeitgleich mit Europa ließ ihn auch Japan zu.
Deutschland geht hier allerdings einen anderen Weg. Obwohl die EMA hinter der Impfung steht, könnten die Experten der Ständigen Impfkommission (Stiko) die Empfehlung für 12- bis 15-Jährige verweigern, sagte deren Vorsitzender Thomas Mertens im "Deutschlandfunk". Denn noch sei unklar, wie hoch das Risiko einer schweren Covid-19-Erkrankung für diese Altersgruppe sei, so dessen Argumentation. Bevor man Kinder impft, müsse man genau klären, inwieweit das deren Gesundheitsschutz diene. Jede Impfung sei auch ein "medizinischer Eingriff". In der Praxis bedeutet eine fehlende Empfehlung der Stiko, dass die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für die Impfung nicht übernehmen. Bei der Covid-19-Impfung wäre das aber vermutlich nicht problematisch, weil die Kosten vollständig der Bund trägt.
In Österreich kann man diesen Zugang absolut nicht nachvollziehen. "Jeder von der EMA zugelassene Impfstoff durchläuft ein präzises und verantwortungsvolles Prüfverfahren", heißt es dazu auf Nachfrage der "Wiener Zeitung" aus dem Gesundheitsministerium. Und: Der Zulassung liege eine wesentliche Frage zugrunde, und zwar, "ob der Nutzen oder das Risiko bei diesem Impfstoff überwiegt".
Dabei gehe es nicht primär um den epidemiologischen Nutzen, konkretisiert Pharmakologe Zeitlinger, sondern um den individuellen. "Also um die Frage, welchen Nutzen eine Impfung jedem einzelnen Kind bringt -und die logische Antwort darauf ist, dass es der Impfstoff vor einer Erkrankung schützen kann", sagt Zeitlinger. Denn auch Kinder könnten erkranken und unter langfristigen Symptomen leiden. Allein bei den Studien der EMA traten in der Kontrollgruppe von etwa 1.000 ungeimpften Jugendlichen 16 Covid-19-Fälle auf. In der gleich großen Geimpften-Gruppe war es kein einziger.
Heftigere Impfreaktionen
In weiterer Folge ergebe sich aus der Impfung freilich auch ein epidemiologischer Nutzen für andere, so Zeitlinger, "zum Beispiel, indem das geimpfte Enkerl seinem Opa vielleicht das Leben rettet". Im Vergleich zu den Älteren müssten die Jüngeren allerdings mit heftigeren Impfreaktionen wie Fieber und Abgeschlagenheit rechnen - aufgrund ihres besseren Immunsystems.
Auch die Opposition spricht sich fast geschlossen für die Impfung der Jüngeren aus, unter anderem deshalb, damit diese ab Herbst wieder problemlos in die Schule gehen können. Allein die FPÖ ist dagegen. Von Gesundheitssprecher Gerhard Kaniak kommt "ein klares Nein zu einer Corona-Impfung von Kindern und Jugendlichen", sagt er zur "Wiener Zeitung". Aus seiner Sicht gebe es keinen Nutzenvorteil. Grundsätzlich habe jeder Mensch das Recht, seine eigene Impfentscheidung treffen zu dürfen - im Fall der Kinder deren Eltern. "Eine Ablehnung der Impfung darf jedenfalls zu keinerlei Nachteilen für die Betroffenen führen", betont Kaniak.
Österreich bereitet sich währenddessen auf die Impfung der 12- bis 15-Jährigen vor. In Wien seien schon 15 Prozent dieser Altersgruppe angemeldet, sagte Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ). In Niederösterreich können ab Mittwoch 10 Uhr Impftermine von und für diese Altersgruppe gebucht werden. Die einzelnen Impftermine finden ab sofort statt. Salzburg hat das Vormerksystem freigeschaltet, und in Vorarlberg sollen "alle Angemeldeten dieser Altersgruppe bis zum Beginn der Sommerferien ein Impfangebot erhalten", so Gesundheitslandesrätin Martina Rüscher (ÖVP).
40 Prozent haben Erstimpfung
Bis Ende Juni hat die Regierung für alle Impfwilligen die erste Covid-19-Impfung angekündigt. Bis Sonntag waren mehr als 1,5 Millionen Menschen voll immunisiert, das sind 17 Prozent der Gesamtbevölkerung. Mehr als 40 Prozent haben die Erstimpfung erhalten. Die seit Sonntag 229 Neuinfektionen liegen unter dem Durchschnitt der vergangenen sieben Tage von 439. Insgesamt gab es bisher offiziell rund 633.000 Fälle von Covid-19 in Österreich, und etwas mehr als 10.000 Menschen sind an oder mit dem Virus verstorben.