Das Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft ist grundsätzlich ein kompliziertes, es durchlebte aber während der Pandemie auch bessere Phasen. In den vergangenen Wochen war von der zwischenzeitlich zarten Annäherung dann nichts mehr zu sehen, wohl auch, weil sich das Virus nicht an die Verheißungen der Politik halten wollte, wonach die Pandemie entweder gar schon gemeistert sei oder sich zumindest dem Ende zuneigt. Von wissenschaftlicher Seite kommt nun der Versuch eines Neustarts in Form eines Strategiepapiers, das so ziemlich all jene Expertinnen und Experten erarbeitet und unterzeichnet haben, die sich in den vergangenen Monaten intensiv mit dem Coronavirus beschäftigt haben. Am Dienstag wurde das elfseitige Papier der Bundesregierung übergeben.

Die gemeinsame Stellungnahme soll auch dem offenbar in der Politik herrschenden Eindruck entgegenwirken, dass viele Wissenschafter in den wesentlichen Fragen der Pandemiebekämpfung ganz unterschiedliche Sichtweisen hätten. Das sei nicht der Fall, betont Thomas Czypionka, Gesundheitsökonom am IHS und einer der Initiatoren. Unter den Autorinnen und Autoren der "Covid-19 Future Operations Plattform" sind etwa die Molekularbiologen Andreas Bergthaler und Michael Wagner, der Epidemiologe Gerald Gartlehner, Herwig Kollaritsch vom Nationalen Impfgremium, Peter Klimek und Niki Popper vom Prognose-Konsortium, die Politologin Barbara Prainsack vom Austrian Corona Panel, die Psychologin Barbara Juen und die Allgemeinmedizinerin Susanne Rabady.

Gewisse Handlungen zur Gewohnheit machen


"Derzeit kann niemand mit Sicherheit sagen, wann die Pandemie endet", heißt es in dem Strategiepapier. Das jüngste Auftauchen einer neuen Variante (Omikron), deren Folgen noch nicht seriös abschätzbar sind, ist dafür Beleg. Die Forscher plädieren für einen Perspektivenwechsel. "Subjektiv kann die Pandemie in den Hintergrund treten, wenn wir gewisse Handlungen zur Gewohnheit machen, ähnlich wie wir zum Beispiel unsere Kleidung dem Wetterbericht anpassen." Durch Routinen soll das Virus die "Dominanz über Politik, Psychologie und Wahrnehmung verlieren", heißt es.

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Freilich, das schreibt sich leichter, als es umzusetzen ist. Wäre die Impfbereitschaft auch nur annähernd so hoch wie bei Masern oder Keuchhusten, wo es keine symbolisch aufgeladenen Grundsatzdebatten gibt, hätte Österreich wohl eine ähnlich entspannte Situation in den Spitälern wie jene Länder, die eine weitaus höhere Impfquote aufweisen. Das gilt auch für andere Maßnahmen, die nur dann voll wirksam sind, wenn sie breit anerkannt sind und nicht etwa zum Ziel parteipolitischer Interessen werden. Unter anderem deshalb, und im Gegensatz zu etwa Dänemark, hat Österreich bereits zur Maximalmaßnahme eines Lockdowns gegriffen, um das Gesundheitssystem zu schützen. Trotz der immensen Kollateralschäden.

Das Papier der Experten adressiert kurzfristige, mittelfristige und langfristige Maßnahmen. Was sie eint: Sie entfalten ihre Wirksamkeit eben nur bei einer hohen Bereitschaft der Mitwirkung. Diese soll unter anderem durch mehr Transparenz, durch klar kommunizierte Ziele und daran spezifisch geknüpfte Indikatoren erhöht werden. Zum Beispiel kritisieren die Wissenschafter, dass Maßnahmen an Schulen, wie etwa Maskenpflicht in der Klasse, an die Intensivbelegung gekoppelt wurde. Das ergibt wenig Sinn und ist kontraproduktiv.

Übergeordnete Leitlinien


Dem Pandemiemanagement übergeordnet sollten demnach strategische Leitlinien sein, auf die sich die Politik zuerst verständigen muss. Sie sollen den groben Rahmen abstecken. Exemplarisch werden in dem Papier einige mögliche erwähnt, wie das Funktionalhalten des Gesundheitssystems, das Vermeiden von Leiden und Tod, das Ermöglichen des gesellschaftlichen Miteinanders und der Erhalt der Freiheit. Bei diesen Leitlinien scheint ein politischer Konsens zwar möglich, "die besondere Herausforderung liegt darin, dass sich hieraus multiple und zum Teil konkurrierenden Ziele ergeben". Ein Lockdown rettet zwar Leben, schränkt die Freiheit aber massiv ein.

Die konkreten gesetzten Maßnahmen, je nach Pandemiegeschehen, müssen aus diesen Leitlinien heraus erklärt und "authentisch vermittelt" werden, so die Forscher. Als Beispiel werden Kontaktbeschränkungen erwähnt, wie sie im November verordnet wurden. "Gesundheit muss geschützt werden. Wir müssen das Gesundheitssystem für uns alle funktionsfähig halten und wir haben das Ziel, Infektionszahlen niedrig zu halten, um Leid zu verhindern." Es brauche Klarheit über das Ziel der gesetzten Maßnahme insgesamt, "warum es uns alle betrifft und wie dieses Ziel zu erreichen ist."

Frühere Weihnachtsferien


Unter den kurzfristigen Maßnahmen, die zum Ziel haben, diesen Winter zu bewältigen, finden sich unter anderem die Ausweitung des Homeoffice, der flächendeckende Ausbau einer PCR-Testinfrastruktur, der eine umfassende 2G-Plus-Regel (geimpft, genesen UND getestet) ermöglicht, die Digitalisierung des Contact tracing, ein Vorziehen der Weihnachtsferien (ab 20. Dezember) und beim Impfen die verstärkte Einbindung lokaler Infrastruktur wie Bürgermeister, Hebammen, Geistliche und Sprechstundenhilfen. Bei knappen Testressourcen sind Priorisierungen notwendig, etwa an den Schulen. Die Mitwirkung sollte durch Quarantäneerleichterungen erhöht werden. "Niemand will Quarantäne-Maßnahmen erleben, daher ist ein umfassendes 2G-Plus-System ein wichtiger Anreiz. Wenn wir einen entsprechenden Schutzschirm haben, müssen umfassend getestete Kontaktpersonen (z.B. in Schulen) sowie Kontaktpersonen mit einer Booster-Impfung nicht mehr in Quarantäne gehen."

Mittelfristig sei es geboten, ein interdisziplinäres Team unabhängiger Expertinnen und Experten einzurichten, um Maßnahmen zu evaluieren und mittelfristige Fragestellungen zu diskutieren. Eine möglichst große Transparenz dieser Prozesse, zum Beispiel auch durch Teilnahme der Medien und aller Parteien an diesen Beratungen, soll das Vertrauen der Bevölkerung erhöhen. Dafür sollen auch Kennzahlen und Schwellenwerte sorgen. Beim Ziel, Leben zu retten, kann die altersbezogene Mortalität ein guter Indikator sein. Beim Ziel, mögliche Langzeitfolgen zu reduzieren, sind die Infektionszahlen das bessere Kriterium.

Da die Pandemie eben wohl kaum nach diesem Winter endet, ist auch eine langfristige Perspektive notwendig. Im Papier ist unter anderem ein wissenschaftlicher Konvent angeführt, um zu verhindern, "dass wir im Herbst 2022 wieder in eine ähnliche Situation kommen". Bei allen Maßnahmen, den kurz- wie den langfristigen, sei es zentral, zu vermitteln, dass das Ziel der Pandemiebekämpfung "glaubhaft vor (parteipolitischen) Partikularinteressen" stehe, schreiben die Wissenschafterinnen und Wissenschafter. "Das Vertrauen in die staatlichen, demokratischen und wissenschaftlichen Institutionen und ihre Handlungsfähigkeit muss wiederhergestellt werden. Vertrauen ist das wertvollste Gut für die erfolgreiche Umsetzung von Maßnahmen."