Fährt man auf der eingleisigen Strecke von Spittal nach Lienz, hat man unweigerlich die Klischees über die österreichische Provinz vor Augen. Gemütlich und ursprünglich ist es, keine Hektik weit und breit. Hochgebirge links und rechts. Und dennoch: Verfolgt man die Medienberichte der letzten Jahre, ist diese ländliche Idylle in Gefahr: Abwanderung junger Menschen, wirtschaftlicher Niedergang, mangelhafte Infrastruktur. Zudem zeigen Wahlen in vielen Ländern Europas eine steigende Polarisierung zwischen Stadt und Land, und so wird der Aufstieg von populistischen Parteien oft den Unzufriedenen in der Peripherie umgehängt. Die Diagnose lautet: Der ländliche Raum hat ein Problem.
Doch ist dieser "ländliche Raum" so einheitlich, wie er dargestellt wird? Und wie ist es wirklich um ihn bestellt? Als Geograf ist man geübt darin, genauer hinzusehen. Manche Regionen wirken äußerst ländlich, doch hinter dem nächsten Hügel erstreckt sich eine Großstadt. Durch einige Alpentäler schlängeln sich Autobahnen und Eisenbahntrassen, während man anderswo nur löchrige Landstraßen findet. Und immer wieder sieht man neben grasenden Kühen oder Weinbergen große Hallen, in denen oft unbemerkt von der Öffentlichkeit hochinnovative Produkte für den Weltmarkt entwickelt werden. Ausschließlich von der modernen Stadt und dem rückständigen Land zu sprechen, ist also verkürzt, die Sache ist komplizierter.
Alles andere als einheitlich

Möchte man diese Fragen etwas systematischer angehen, muss man zunächst festlegen, welche Regionen überhaupt als ländlich gelten. Über viele Jahrzehnte haben sich Wissenschaft und Planung oft auf die Bevölkerungsdichte gestützt. Daran regt sich zunehmend Kritik, denn diese Maßzahl sagt wenig über den aktuellen Zustand und die Zukunftsperspektiven einer Region aus. Spannender ist es, sich die demografische und wirtschaftliche Entwicklung im Detail anzusehen, und auch die geografische Erreichbarkeit spielt eine Rolle sowie Unternehmen, die eigene Forschung betreiben und somit in innovativen und damit zukunftsträchtigen Branchen tätig sind.
Berücksichtigt man all diese Faktoren, zeigen sich teils überraschende Ergebnisse. Zwar gibt es Regionen in Österreich, in denen sich die Herausforderungen summieren, etwa Grenzregionen wie das Waldviertel oder das Südburgenland und inneralpine Bezirke wie Murau. Doch anderswo ist die Erreichbarkeit ebenso gering und Abwanderung ein Problem, aber es gibt innovative Leitbetriebe. Steigt man in Lienz-Peggetz aus dem Zug, steht man direkt auf einem modernen Firmengelände. Liebherr entwickelt hier Spezialkühlschränke für Apotheken und in unmittelbarer Nachbarschaft entwirft Durst Phototechnik großformatige Flachbettdrucker.
Das Innviertel steht sogar besser da als so manche Stadt in Österreich. Die Region schafft es auch, gänzlich neue Pfade zu beschreiten. So hat sich aus dem Sporthersteller Fischer der Flugzeugkomponentenhersteller FACC entwickelt, der unter anderem Airbus beliefert und an Flugtaxis forscht. Mitunter sind es historische Zufälle, warum man diese Firmen auf dem Land findet. So übersiedelte etwa der Gründer der Plansee Group, die im Außerfern hoch spezialisierte Werkstoffe entwickelt, 1921 von Berlin in die Tiroler Berge. Er benötigte große Mengen an Elektrizität, was durch das benachbarte Wasserkraftwerk garantiert war.
Eine Frage der Strategie
Würden die Nachteile in ländlichen Regionen überwiegen, wären all diese Unternehmen gut beraten, ihren Sitz in eine Stadt zu verlagern. Doch fragt man sie nach der Einschätzung ihres Standorts, erhält man interessante Antworten zu den Strategien. So setzen Unternehmen verstärkt darauf, Arbeitskräfte im Betrieb auszubilden, da Personen mit entsprechender Ausbildung am lokalen Arbeitsmarkt selten sind. Lehrlingsprogramme vermitteln die benötigten Qualifikationen von Beginn an, teilweise gibt es auch Stipendien, wenn jemand ein Studium einschiebt und danach in den Betrieb zurückkehrt.
Genauso wichtig ist es, dass Firmen sich aktiv bemühen, in nationale und internationale Wissensnetzwerke mit Forschungseinrichtungen und Partnerfirmen eingebunden zu sein. In Städten kommt es leichter zu einem spontanen Austausch, doch dieser lässt sich durch formale Kooperationen teilweise ersetzen. Auch Zweigstellen im In- und Ausland werden zu diesem Zweck eingerichtet und man versucht, sich als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren, um den einen oder die andere aufs Land zu locken.
Andererseits haben Unternehmen auch gelernt, die Vorteile am Land zu nutzen. Arbeitskräfte sind beispielsweise überdurchschnittlich loyal, überlegen sich gut, ob sie in dieser Region arbeiten wollen, und lassen sich selten abwerben. Das schützt Unternehmen bis zu einem gewissen Grad davor, dass interne Expertise zur Konkurrenz wandert.
Enge Kooperationen
In einigen Fällen ist das Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft in der Region vorbildhaft. Man kennt sich und arbeitet an gemeinsamen Projekten, wie etwa eine Fachhochschule in die Region zu holen. Durch enge Kooperationen mit Ausbildungsstätten lassen sich auch Lehrgänge besser auf die Bedürfnisse der Unternehmen abstimmen. Zusätzlich sind sanfte Standortfaktoren wie eine hohe Lebensqualität im Recruiting von Bedeutung. So manche Entwicklerin setzt sich nach der Arbeit lieber auf das Mountainbike als in einen überfüllten Pendlerzug.
Schließlich spielen klassische Kostenvorteile wie niedrigere Löhne und geringere Grundstückspreise eine Rolle. Hat ein Unternehmen neben der Entwicklungsabteilung auch viele Personen in der Produktion beschäftigt, kann dies in einem Hochlohnland wie Österreich Kostenersparnisse bringen. Entwicklung und Produktion an einem Standort zu haben, ist auch für den Innovationsprozess von Vorteil. Man kann so flexibler auf Probleme reagieren.
Innovative Unternehmen leisten zweifellos einen Beitrag zur zukünftigen Entwicklung ländlicher Regionen. Das hat auch die Politik erkannt und möchte Innovationsaktivitäten abseits der Zentren forcieren, beispielsweise mit dem "Masterplan für den ländlichen Raum". Allerdings gibt es dabei drei Herausforderungen: Erstens unterscheiden sich ländliche Räume und die Bedürfnisse der Unternehmen stark. Die gleiche Maßnahme kann in verschiedenen Regionen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.
Zweitens basieren viele gängige Politikansätze auf Erfahrungen aus Städten, wie etwa die Idee eines fachlich spezialisierten Innovationszentrums. Innovationsaktivitäten am Land sind aber sehr divers, es gibt sowohl Großunternehmen wie auch Start-ups, die in den verschiedensten Branchen und weit voneinander entfernt tätig sind. Der "Cluster in der Peripherie", also die Konzentration mehrerer Unternehmen und Forschungseinrichtungen derselben Branche an einem Ort, bleibt so häufig ein Wunschdenken.
Und drittens fokussiert Innovationspolitik nach wie vor stark auf Grundlagenforschung und High-Tech-Branchen. Unternehmen in ländlichen Regionen bauen ihren Innovationsprozess aber stärker auf langjähriger Expertise und Qualifikationen auf, die man eher am Arbeitsplatz und weniger im Studium erlernt. Und in eher traditionellen Branchen, die zu wenig Beachtung finden.
Smarte Standortpolitik
Dennoch kann die Politik gestalten, wenn sie sich dieser Punkte bewusst ist und auf vorhandenen Potenzialen aufbaut. Ein Betriebsgebiet mit Glasfaseranbindung alleine sind für kaum ein Unternehmen Grund genug, sich auf dem Land niederzulassen, aber dennoch eine notwendige Voraussetzung. Auch Investitionen in Straßen- und Schienennetze, die zu besserer Erreichbarkeit führen, können sinnvoll sein.
Auch eine Fachhochschule ist interessant, wenn die Studiengänge passend sind und es weniger Konkurrenz um die Absolventen gibt, als dies in Städten üblich ist. Für Start-ups kommt ein Umzug aufs Land dann in Frage, wenn sehr schnell große Produktionsstätten notwendig werden, die im Zentralraum unbezahlbar wären. Eine Standortpolitik, die stärker darauf abzielt, die vorhandenen Unternehmen bestmöglich zu unterstützen, Start-ups den Umzug und Großunternehmen eine Niederlassung schmackhaft zu machen, kann also längerfristig erfolgreicher sein als der Versuch, ein Innovationszentrum auf der grünen Wiese zu etablieren.
Herausforderungen und Chancen im ländlichen Raum sind vielfältig, weshalb allgemeine Empfehlungen schwierig sind. Einzelmaßnahmen wie das Verlegen von Glasfaserleitungen sind nur scheinbare Patentrezepte. Um die Erfolgschancen zu erhöhen, braucht es eine ganzheitliche Betrachtungsweise und von politischer Seite individuelle, maßgeschneiderte Lösungen. Dafür muss auch die Wirtschaftsgeografie die Innovationsprozesse der Peripherie stärker ins Zentrum des Forschungsinteresses stellen, um dafür die notwendige Grundlage zu liefern.