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Hollands Versuchslabor

Von Katja van Driel aus Amsterdam

Politik

In der Retortenstadt Almere hat man in den 70er Jahren versucht Wohlstand für die Massen zu kreieren. Heute beweist man in dem einst "hässlichsten Ort der Niederlande" Mut zum Chaos und lässt die Einwohner in Eigenregie ihre Stadt gestalten.


Amsterdam. Ein ganz normaler Morgen in Almere: Schwärme von Teenagern sind mit dem Fahrrad zur Schule unterwegs. Auf der Autobahn ins 30 Kilometer entfernte Amsterdam ist mal wieder Stau. Und während die Fensterputzer die Glasfassade des Kinos "Utopolis" auf Hochglanz polieren, joggt ein junger Vater mit Kinderwagen an der Seepromenade entlang. Wer die Szenerie betrachtet, kann kaum glauben, dass dort, wo heute die jüngste Großstadt der Niederlande liegt, vor gut 50 Jahren noch überhaupt nichts war. Nicht einmal Land, um darauf zu bauen. Im größten Landgewinnungsprojekt ihrer Geschichte haben die Niederländer eine komplett neue Provinz dem Meer abgerungen. Flevoland ist mit fast 1000 Quadratkilometern Fläche mehr als doppelt so groß wie der Großraum Wien.

Von Anfang an war Almere ein urbanistisches Versuchslabor und die Bautrends der vergangenen Jahrzehnte lassen sich im Stadtbild so deutlich wie Jahresringe ablesen. Ziemlich unbemerkt hat sich hier in den vergangenen Jahren eine kleine Revolution abgespielt: Die Stadt, die ihre Existenz dem Masterplan zu verdanken hat, ist heute Vorreiter in Sachen Deregulierung. In Almere wird getestet, wie die Planung von unten eine ganze Stadt verändern und Nachhaltigkeit in Zeiten der Finanzkrise bringen kann.

"Pioniere" nannten sich die ersten Bewohner der Stadt, und etwas vom Wilden Westen muss der erste Winter in der Mitte der 70er Jahre noch gähnend leeren Polderlandschaft tatsächlich gehabt haben: Keine Schulen, keine Ärzte und die nächsten frischen Brötchen waren 12 Kilometer entfernt. In den Planungsunterlagen heißt Almere zuerst pragmatisch "Überlaufgebiet". Gemeint ist, dass hier Platz war für neue Wohnungen, um die überfüllten Städte Amsterdam und Utrecht zu entlasten. Um den Mangel an Wohnungen für Familien auszugleichen, entstanden vor allem Neubaugebiete mit niedrigen Reihenhäusern und endlosen Labyrinthen aus Sackgassen. Wie Rollrasen wurden bis in die 90er Jahre hinein ganze Stadtviertel am laufenden Meter über die Landschaft ausgebreitet. Suburbane Einheitsbauten realisiert von großen Projektbüros und immer innerhalb der Auflagen einer streng festgelegten Gebietsplanung. So ist Almere schnell groß geworden.

Rund 35 Jahre nach dem ersten Spatenstich war die Marke von 200.000 Einwohnern erreicht. Aber das rasante Wachstum forderte seinen Tribut. Kaum charakteristische Orientierungspunkte, monotone Straßenzüge, geringe soziale Diversität und die quälende Langeweile der Schlafstadt waren die Folgen. Die Leser der großen niederländischen Zeitung "Volkskrant" vergaben 2008 gar den unrühmlichen Titel "hässlichster Ort der Niederlande".

Dabei war Almere als idyllische Gartenstadt nach dem Konzept des britischen Urbanisten Ebenezer Howard entworfen worden: "Das städtische Gebiet besteht aus mehreren, in einer parkartigen Landschaft gelegenen Zentren", heißt es 1970 in den Entwurfsunterlagen. Die Planer ließen sich dabei vom sozialdemokratischen Traum vom Wohlstand für die Massen leiten: "Früher zogen die Adeligen aus der Stadt weg auf Landgüter. Nun bekamen wir die Chance, ein Landgut für eine Viertelmillion Menschen anzulegen", erinnert sich Teun Koolhaas, einer der Gründerväter, in einem Dokumentarfilm von 2001. Die dezentrale Struktur schuf Spielraum für organisches, bedarfsgerechtes Wachstum. Gleichzeitig liegt darin der Ursprung des bis heute größten Dilemmas von Almere: Wie wird ein Ganzes aus den vielen Teilen?

"Die Niederlandesind fertig"

Das Konzept der mehrkernigen Stadt sah auch vor, erst dann eine echte Innenstadt zu bauen, wenn die Bevölkerung entsprechend angewachsen war. Um die Jahrtausendwende war es so weit: Rem Koolhaas, niederländischer Stararchitekt vom Dienst, bekam mit seinem Büro OMA den Zuschlag, das neue Großstadtzentrum zu realisieren. Hinter dem Konzept steht die eben so einfache wie megalomane Idee vom Berg im Polder. Die Horizontlinie des gesamten Innenstadtbereichs ist um mehrere Meter angehoben. Darunter verbergen sich Parkhäuser, Busspuren und ein vollautomatisches Abfallentsorgungssystem. Oberirdisch zeugen schicke, schnittige Bauten mit viel Glas und Stahl vom Geist davon, dass man wohl auch hier auf so etwas wie den "Bilbaoeffekt" hoffte - der gezielten Aufwertung von Orten durch spektakuläre Architektur.

Dieser ist in Almere augenscheinlich moderat ausgefallen. An gewöhnlichen Werktagen zieht es nur Wenige ins Shoppingherz der Stadt. Stattdessen weht durch die futuristischen Straßenzüge noch immer frische Landluft. Jacob Buitenkant vom in Almere ansässigen Stadtforschungsbüro New Town Institute glaubt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sich echtes Großstadtgefühl einstellt.

"Die Diversität der Großstadt muss noch kommen. Aber das dauert. Jahrzehnte, vielleicht ein halbes Jahrhundert. Noch sehen alle Bars gleich aus. Aber immerhin gibt es jetzt eine Kneipenstraße."

Inzwischen weht schon wieder ein anderer Wind über das Gebiet: Kleiner, individueller und vor allem eigenverantwortlicher heißt die Devise. Große Wachstumspläne wurden auf die lange Bank geschoben.

"Die Niederlande sind fertig", bringt Jacob Buitenkant die Lage auf den Punkt. Es ist keine Bevölkerungsexplosion zu erwarten und die meisten Gebiete sind fertig entwickelt. "Ausdifferenzieren und neu arrangieren", darin liege die Herausforderung der Zukunft. Wie immer geht Almere mit der Zeit und entwickelt neue Strategien. Begonnen hat die Neuorientierung vor knapp zehn Jahren unter dem Motto Almere 2.0. Seitdem kehrt sich die Stadt ab von Großprojekten und widmet sich dem Selbstbau.

Dieser Sektor ist in den Niederlanden nach wie vor unterbelichtet. Der Markt ist in der Hand großer Projektbüros und Wohnungsbaugesellschaften. Während landesweit 13 Prozent der Wohnungen in Eigenregie gebaut werden, sind es in Almere mittlerweile 50 Prozent, vor allem im neuen Stadtviertel Almere Poort. Mit der Krise zeigt sich die Stärke der neuen Zielrichtung. Während Großprojekte nach 2008 am laufenden Band abgesagt werden, weil die Finanzierung wackelt, stehen die Interessenten für die Selbstbaugrundstücke in Almere Schlange.

Testlabor für diederegulierte Gesellschaft

Auch einen weiteren positiven Effekt erhofft man sich: Die schlüsselfertigen Wohnungen von der Stange machten nicht nur das Stadtbild gesichtslos, sondern sind auch beliebiges Konsumobjekt. Wer dagegen sein Haus selbst baut, geht nachhaltiger vor und entwickelt eine Beziehung zur Umgebung. So könnte die Planung von unten in Zukunft eine ganze Stadt verändern.

Der Erfolg der Eigeninitiative hat noch weitaus radikalere Ideen beflügelt: Der zukünftige Stadtteil Almere Oosterwold wird heute als Testlabor für die deregulierte Gesellschaft entwickelt. Auf der 4300 Hektar großen Wald- und Wiesenfläche sollen in den kommenden Jahren 15.000 Wohnungen entstehen. Und das völlig planlos. Für die Niederlande ist dieser Mut zum Chaos eine echte Revolution. "Es ist eine Lektion in Sachen loslassen", sagt Almeres Dezernet für Wohnen, Henk Mulder von der sozialdemokratischen Partei im Interview. "Wir sind daran gewöhnt, buchstäblich jedes Bäumchen vorher aufzuzeichnen. Das ist das andere Extrem. Ich bin sehr neugierig, wie sich dieses Gebiet entwickelt".

Die Idee stammt aus dem Architektenbüro MRVRD, das bereits bei der Expo 2000 in Hannover mit dem niederländischen Pavillon für Furore sorgte. "Freeland" nennen sie ihre Utopie der Deregulation: "Freeland wird als radikal liberalisierter Ort gedacht, an dem jeder das Recht hat, seinen eigenen Lebensraum zu definieren. Freeland feiert das individuelle Verlangen: Hier kannst du bauen, was immer du möchtest, in jeder Form, die du möchtest; Du entscheidest, wie du deinen Raum nutzen und wie du dich verhalten möchtest. Du kannst das Heim deiner Träume bauen - eine Kuppel, eine Burg oder ein einfaches Haus." Wie das in der Praxis aussehen wird, steht noch in den Sternen.

Klar ist bisher: die zukünftigen Bewohner bekommen sehr günstige Grundstücke und einige wenige Spielregeln, müssen dafür aber selbst für den Anschluss an die Kanalisation, ans Straßen- und Energienetz sorgen. Noch ist nichts zu sehen. Aber die ersten Interessenten, darunter landwirtschaftliche Betriebe, eine Lebensgemeinschaft von Künstlern, eine Oldtimergarage und eine Familie, haben ihre Verträge mit der Stadt gezeichnet und verhandeln momentan miteinander über das Anlegen der Infrastruktur. Wieder einmal wagen sich in Almere also Pioniere auf unbekanntes Terrain.