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Berlins langer Jammerblock

Von Saskia Hödl aus Berlin

Politik

Nur langsam wird die Retortensiedlung "Märkisches Viertel" ihr Image als gefährliches Ghetto los.


Berlin. "Hohe Häuser, dicke Luft, ein paar Bäume, Menschen auf Drogen, hier platzten Träume", rappte Sido in seinem Debütsong "Mein Block" vor etwa zehn Jahren. Wenn der Musiker von "seinem Block" spricht, meint er das Märkische Viertel in Berlin-Reinickendorf - auch "MV" oder wenig liebevoll "merkwürdiges Viertel" genannt. Die Retortensiedlung, die vergangenes Jahr ihr 50-jähriges Jubiläum feierte, liegt im nordwestlichen Rand Berlins. Im Süden und Osten grenzt es an den Stadtteil Pankow und lag somit bis zum Mauerfall direkt an der Grenze zur DDR. Die quaderförmige und gewaltige, weil bis zu 18 Stockwerke hohe, 1960er-Jahre-Plattenarchitektur darf man also durchaus als symbolisches Mittel des eingemauerten Westens verstehen. Heute leben in der Betonsatellitenstadt auf einer Gesamtfläche von nur 3,2 Quadratkilometern 40.000 Menschen in 16.000 Wohnungen.

Wo heute die kantigen Hochhäuser aus dem Boden ragen, stand Anfang der 60er-Jahre noch eine große und wild wuchernde Laubenkolonie. Von Wiesen umrahmte "grüne Slums", ein Notwohngebiet, in dem die Menschen ohne Strom und Wasser lebten. Man pflanzte Gemüse an, bohrte Brunnen und die hygienischen Zustände waren mangelhaft. Irgendwann gab es hier von der windschiefen Holzhütte bis zum Einfamilienhaus alles. Dem Staat passte das wilde Durcheinander nicht, außerdem hatte man die Bekämpfung des Wohnungsmangels ja versprochen, also wurde nach vorangegangener Planung 1962 dann mit dem Bau des Viertels begonnen. 1964 zogen die ersten Mieter auf das Gelände. Zwischen Schutt und Baustoffen vergingen dann noch knapp 20 Jahre, bis die Bauarbeiten, inklusive funktionierender Infrastruktur, abgeschlossen waren.

Die "graue Hölle"

Dennoch: Schick war es nie, im Märkischen Viertel zu leben. Die vielen Planungsänderungen, die wegen fehlender Infrastruktur vorgenommen werden mussten, die abgeschiedene Lage und die hohe Arbeitslosenquote standen immer im Vordergrund. Obwohl mehr als 30 Architekten an dem Projekt beteiligt waren, galt die städtebauliche Typologie als verrufen. Existenzen aus verschiedenen Teilen Berlins, mit verschiedener Herkunft und unterschiedlicher Geschichte prallten hier unkontrolliert aufeinander. Die Reinickendorfer empfanden ihre Heimat außerdem als hässlich und brutal. "Die graue Hölle" nannten sie ihr Viertel und das in seiner Monotonie beeindruckende und mit 700 Metern längste zusammenhängende Wohnhaus Deutschlands bekam schnell den Beinamen "der lange Jammer".

In den 1960er-Jahren ging man noch davon aus, dass man Urbanität durch Dichte erzeugen könne. Wer genug Menschen und Hochhäuser an eine Stelle klatscht und ein Einkaufszentrum dazu stellt, könne eine funktionierende Nachbarschaft kreieren, so die Annahme. Doch in einem 18-stöckigen Treppenhaus kommen die Leute zum Reden nicht zusammen. Sie bleiben in ihren Wohnungskojen und das Wir-Gefühl entsteht nur in Abgrenzungen zu all jenen, die nicht in dem "langen Jammer" beheimatet sind.

Was im Märkischen Viertel zur Unzufriedenheit der Mieter entscheidend beitrug: Das kommunale Berliner Wohnungsunternehmen Gesobau, das für die Verwaltung der Gebäude zuständig war, hatte allein im Jahr 1973 die Miete drei Mal erhöht. Einige Mieter fingen an ihre Wut an dem Gebäude auszulassen, demolierten die Treppenhäuser und warfen den Müll aus den Fenstern. Die Proteste brachten auch studentische Gruppierungen ins Viertel, die sich hier politisch berufen fühlten, ihren Kampf gegen das System im Plattenbau zu führen.

Ein eigener Lifestyle-Blog

Ihr Engagement und die Berichterstattung der Medien über das heruntergekommene Ghetto am Stadtrand taten ihr Übriges für das Image des Märkischen Viertels. Als dann 1989 ein junger Deutscher einen Türken ersticht, war das Bild der gefährlichen Retortensiedlung komplett, auch wenn die Stadtregierung immer wieder betonte, dass die Kriminalität in dem Viertel nicht höher sei als in anderen Stadtteilen. Der Ruf war längst ruiniert.

Seit einigen Jahren versucht Gesobau das zu ändern. Erste Erfolge zeichnen sich langsam ab. Schon seit Ende der 1990er-Jahre wird vom Berliner Senat ein Quartiersmanagement eingesetzt, das die nachhaltige Stärkung des sozialen Zusammenhalts des Stadtteils zur Aufgabe hat. 2008 wurde dann auch mit einer Modernisierung begonnen, die 560 Millionen Euro kostete und Ende des Jahres fertiggestellt werden soll.

Die einst tristen Hochhäuser haben einen neuen Anstrich, wurden gedämmt und entsprechen heute den neusten Standards. Die Grünanlagen wurden ausgeweitet und sollen den Bewohnern als Begegnungszonen dienen. Die Mieten sind trotz des Umbaus nur um etwa zehn Cent pro Quadratmeter gestiegen. Die Energiekosten sind dabei gesunken und Gesobau nennt das Viertel nun "die größte Niedrigenergiesiedlung". Vor der Sanierung gab es hier weder Wasserzähler noch eine individuelle Heizkostenabrechnung.

Besonders sorgfältig wurden die Treppenhäuser geplant. Das Ambiente rund um die Eingänge wirkt mit Tapeten und Holz nun edler, was Vandalismus verhindern soll. In der Bevölkerung kommt der Imagewandel bereits an. Standen vor zwanzig Jahren noch rund 200 Wohnungen leer, sind es heute nur mehr acht.

Das Viertel hat sogar einen eigenen Blog, auf dem Bewohner mit ihren Geschichten vorgestellt werden. Die Aufmachung der Seite ist auf Lifestyle und Zusammengehörigkeit getrimmt und passt zu den modernen aber schlichten Anstrichen der Häuser, in hellen und warmen Farben.

Für Rapper taugt diese Kulisse inzwischen nicht mehr. Denn der einzige Punkt, den man im Märkischen Viertel heute nach wie vor bemängeln könnte, ist die versprochene U-Bahn Station, die aus Kostengründen immer noch nicht existiert.

Märkisches Viertel