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Der Kampf um die Stadt für alle

Von Matthias Winterer

© Gehsteig Guerrilleros

Wohnraum wird teurer. Bürger setzen auf selbst entwickelte Lösungen und tauschen sich am "Urbanize"-Festival aus.


Wien. "Die Wohnungsnot hat in London, Paris, Berlin, Wien akute Formen angenommen und besteht meist chronisch fort", schrieb Friedrich Engels im Vorwort seiner Schrift "Zur Wohnungsfrage". Auch mehr als 140 Jahre später trifft das Zitat die Situation am Wohnungsmarkt der Metropolen.

Denn die europäischen Städte wachsen. Explodierende Mietpreise sind aber nur eine der vielen Wachstumsschmerzen, unter denen die Ballungsräume leiden. Sie werden zunehmend privatisiert. Investoren und Bauträger wittern ihre Chance. Sie verdichten die innerstädtischen Bezirke, bebauen das Brachland am Stadtrand. Gleichzeitig klafft die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Die Gentrifizierung ganzer Stadtteile wird vorangetrieben.

Doch der Widerstand gegen diese Entwicklungen ist längst erwacht. Der Kampf um die letzten Freiräume hat auch in Wien begonnen. Häuser werden besetzt, Bürgerinitiativen schießen wie Pilze aus dem Boden. Sie stemmen sich gegen die Bebauung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raums, sie kämpfen um leistbares Wohnen. Und sie suchen in Eigenregie Lösungen für die brennenden urbanen Fragen unserer Zeit.

Fragen, die seit sieben Jahren auch am "Urbanize" - einem Festival für urbane Erkundungen - diskutiert werden. Das vom Wiener Urbanismus-Magazin "derivé" initiierte Festival steht heuer unter dem Motto "Housing the Many - Stadt der Vielen". In Workshops, Vorträgen, Filmen und Diskussionsrunden werden bis Sonntag die Bewohner selbst ins Zentrum der Auseinandersetzung gerückt. So beschäftigen sich viele der Programmpunkte mit den urbanen Initiativen.

"Erstmals gibt es im Zuge des Festivals eine Open-Space-Konferenz, die 120 Teilnehmer aus Architektur, Stadtplanung, Kunst, Design, Aktivismus, Stadtforschung und Verwaltung zum gemeinsamen Diskurs versammelt", sagt Festivalleiterin Elke Rauth. "Es sollen Potenziale für die Stadt von morgen gefunden werden."

So haben sich verschiedene Akteure der Stadt in der Festivalzentrale im Etablissement Gschwandner im 17. Bezirk zusammengefunden. Sie tauschen sich aus, erzählen von ihren Projekten und Erfahrungen. Vor allem die aktivistischen, selbstorganisierten Initiativen zeigen fruchtbare alternative Formen der Mitbestimmung auf. Nicht selten führt der Weg zur Lösung gesellschaftlicher Missstände über den Protests.

Von der Protestbewegungzum politischen Akteur

Wie vor allem Beispiele aus Deutschland zeigen. Berlins wohl berühmteste Mieterinitiative "Kotti & Co"entstand im Jahr 2011. "Im sozialen Wohnungsbau am Kottbusser Tor stand wieder eine der jährlichen Mieterhöhungen an", erzählt Sandy Kalterborn, Mitbegründer der Initiative. "Unsere Hochhäuser gehören den privaten Gesellschaften Hermes und GSW, die seit über 30 Jahren Subventionen bekommen, um bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Sie erhöhen jedes Jahr die Miete, da sich die Stadt aus den Subventionen zurückzieht", sagt Kalterborn. Gerade in dieser Gegend Berlins sind die Einkommen niedrig. "Es traf die Ärmsten der Stadt." Die Mieter schlossen sich zusammen, demonstrierten, besetzten einen Bretterverschlag am Fuße des Betonblocks.

Heute wird die Protestbewegung von einer großen Welle der Solidarität getragen. Die mediale Aufmerksamkeit hält ungebrochen an. "Über die Jahre sind wir ein stadtpolitischer Akteur geworden. An uns kommt man nicht mehr vorbei. Auch durch unsere Initiative ist die Problematik des sozialen Wohnungsbaus wieder Thema der Politik geworden", sagt Kaltenborn.

Dem Phänomen der steigenden Mieten versuchen sich auch die sogenannten Mietrebellen entgegenzustellen. Die ebenfalls in Berlin verorteten Aktivisten leisten Widerstand gegen Gentrifizierung, gegen Delogierung, gegen die Verdrängung der ärmeren Gesellschaftsschichten aus den boomenden Bezirken der hippen Stadt. Sie kämpfen an vielen Fronten. "Wir unterstützen Betroffene durch unser gesammeltes Wissen, helfen bei Behördengängen, organisieren Demos und zivilen Ungehorsam", sagt Matthias Coers, Filmemacher und Aktivist.

Pensionisten besetzten Seniorentreff

"Die Wohnungsnot in Deutschland trifft die ganze Bandbreite der Bevölkerung", sagt er. Immer wieder würden auch Pensionisten auf die Straße gehen. So besetzten Pensionisten im Ostberliner Stadtteil Pankow einen Seniorentreff. Andere gingen in Friedrichshain auf die Straße, um gegen die Umwandlung eines Wohnheims in Ferienunterkünfte zu demonstrieren. Der Protest ist längst keine Angelegenheit einer ideologisch linken Minderheit mehr. "Noch vor wenigen Jahren wurden wohnungslose Menschen selbst für ihre Miesere verantwortlich gemacht. Heute wird Obdachlosigkeit als gesellschaftliches Problem erkannt", sagt Coeres.

Auch die Stadtregierungen können die Proteste nicht mehr ignorieren. Immer wieder müssen sie einlenken. So verhinderten in Hamburg tausende Menschen den Verkauf und Abriss des historischen Gängeviertels. In Berlin vereitelten Bürgerinitiativen die Bebauung und Privatisierung des ehemaligen Flughafens Tempelhof.

Und langsam tut sich auch in Wien etwas. Die Bürgerinitiative "Donaucanale für alle!" setzte sich etwa erfolgreich gegen die Bebauung einer Wiese am Donaukanal durch. Die Initiative "Kaiserwiese für alle" brachte das Thema der kommerziellen Nutzung von öffentlichem Grund auf den Radar von Medien und Politik.

Das "Urbanize 2016" macht deutlich, dass mit der zunehmenden Privatisierung der Stadt auch der Widerstand dagegen wächst. Der Diskurs im Gschwandner unterscheidet sich dabei grundlegend von klassischen Anrainerinitiativen, die für Prostitutionverbote oder gegen Drogenberatungszentren auf die Straße gehen.

Er ist vielmehr theoretisch getragen. Die Eigeninteressen verschwinden hinter einem Verständnis, das Stadt als Raum für alle begreift. Urbane Praktiken der Aneignung von öffentlichem Raum werden genauso diskutiert, wie Finanzierungsmodelle für Immobilien, abseits der Gewinnmaximierung.

Frank John stellt die "fux Genossenschaft" vor. Sie kaufte die Viktoria-Kaserne in Hamburg-Altona von der Stadt und betreibt sie seit dem Jahr 2015 als Produktionsort für Kunst, Kultur und Gestaltung, Gewerbe und Bildung. Ziel der rund 200 Mitglieder ist es, die Miete auf unter fünf Euro pro Quadratmeter zu halten. "Momentan liegt sie bei 4,80 Euro", sagt John. "Und das direkt neben dem längst kaum noch leistbaren St. Pauli."

Es gibt also Hoffnung. Denn ohne neue Ideen droht das städtische Gefüge zu kippen. Am "Urbanize 2016" wird eifrig nach Auswegen gesucht. Damit Engels Zitat endlich in den Geschichtsbüchern verschwinden kann.